Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

er nicht ausweichen, indem er sich schnell hinter dem Federbüschel eines
Carabiniere versteckt.
»Du bist weder dumm noch böswillig«, hat Ilaria einmal zu ihm gesagt,
»deshalb verstehe ich nicht, wie du diesen ganzen Dreck so einfach
schlucken kannst.«
»Mit Weitblick«, hat er geantwortet. »Politik machen bedeutet, einen
weiten Blick zu haben.«
Da hat sie ihn mit einem Lächeln auf die Stirn geküsst. »Machiavelli
räumt bei ihm auf, bei meinem Mann.« Die drei letzten Worte kamen fast
beiläufig, wie ein »Ciao« oder »Danke«, und machten ihm trotzdem eine
Woche lang gute Laune.
Giulia, die Mutter seiner Kinder, hat vor ein paar Monaten ihre
Intelligenz bewiesen, die Piero immer hinter dem affektierten Vogue-
Leserinnen-Habitus vermutet hat. »Ich bin nicht die Frau, mit der du alt
werden willst«, hat sie zu ihm gesagt. »Wir haben es versucht, du hast es
versucht, aber wenn auch nur entfernt die Rede auf Ilaria Profeti kommt,
zerfließt dein Gesicht wie Butter in der Sonne.« Und was macht es schon,
wenn die Bekanntschaft eines jungen Notars mit ansprechendem Äußeren
und ausnehmend soliden finanziellen Verhältnissen, mit dem sie sicher nicht
nur Katastereinträge bespricht, Giulias Intelligenz auf die Sprünge geholfen
hat. Umso besser.
Sie haben sich zum zweiten Mal getrennt, in aller Freundschaft und ohne
Schmerzen. Die Kinder auf ihren namhaften internationalen Universitäten
haben wahrlich anderes zu tun, als unter der offiziellen Trennung ihrer Eltern
zu leiden – die schon seit Jahren Realität ist. Der unbeugsame Verteidiger der
Unauflöslichkeit der Ehe für Verwandte und Untergebene, Edoardo Casati,
ist vor ein paar Jahren gestorben. Piero Casati ist also wieder frei, wie
damals, als er Ilaria fragte, ob sie ihn heiraten wolle, und sie ihm ins Gesicht
lachte. Nur dass er sich seitdem so verflucht oft im Weitblick übt, dass er
beinahe blind wird für alles, was sich in seiner Nähe befindet. Für sich selbst,
zum Beispiel.
Von diesem ganzen Dreck, wie Ilaria es nennt, hat er eine Menge
geschluckt, seit er in die Politik gegangen ist. Doch seit einigen Monaten ist
seine Unruhe gewachsen und schließlich zu einem ständigen Gefühl
geworden, das er nicht mehr abschütteln kann. Was er jetzt in den Augen
seines Spiegelbildes liest, ist Abscheu.

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