Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

das System ihr mitgeteilt hat, dass Attilios Handy eingeschaltet wurde.
Tatsächlich klingelt es einen Moment später. Er will schon »Ilaria!« rufen, da
sieht er den Namen auf dem Display.
»Hallo, Mamma.«
Was taten die italienischen Mütter nur, als es noch nicht die automatische
Benachrichtigung gab, sobald die Söhne ihre Mobiltelefone wieder
einschalteten?
»Hallo, mein Schatz.« Die östrogene Stimme einer schönen Frau, die
weiß, dass man ihr ihre siebzig Jahre nicht ansieht. »Zuerst war dein Handy
aus, dann war besetzt.«
»Ich habe versucht, dich anzurufen.«
Attilio hört, wie Anita am anderen Ende der Leitung lacht. Sie weiß, dass
er lügt. Er weiß, dass sie es weiß. Er weiß aber auch, dass sie es mag, wenn er
so etwas sagt.
Sie fragt, wie sein Tag war. Er berichtet von den harmlosen Dingen, die
man einer Mutter erzählen kann.
»Weißt du schon das Neuste von Papà?«, fragt sie dann. »Er nennt mich
jetzt ›Baby‹.«
»Baby?«
»Ja. Seit ein paar Tagen.«
»So hat er dich doch nie genannt.«
»Nein, eben. Vielleicht lasse ich ihn zu viele von diesen amerikanischen
Serien gucken. Da nennen sie sich dauernd so, Baby hier, Baby da.«
»Aber er hört doch nicht einmal zu, was sie sagen.«
»Das ist nicht wahr. Die Geschichten bekommt er sehr wohl mit, auch
wenn es nicht so aussieht. Neulich gab es eine Heiratsszene, da hat er gesagt:
›Die Liebe siegt.‹ Und es stimmte: Das Paar ging durch Himmel und Hölle,
aber am Ende kriegten sie sich endlich.«
Attilio kennt die Hartnäckigkeit, mit der seine Mutter das
Vierteljahrhundert Altersunterschied zwischen sich und ihrem Ehemann
leugnet.
»Komm, Mamma. Papà kapiert nichts mehr und weiß nicht, was er sagt.
Das nennt man senile Demenz. Du musst der Tatsache ins Auge sehen.«
Anita kichert wie eine Zwölfjährige, die dabei erwischt wird, wie sie den
BH ihrer Mutter anprobiert. »Ich weiß genau, was dein Vater noch so alles im
Kopf hat. Heute hat er zu mir gesagt ...«

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