Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Als Ilaria acht Jahre alt war, wurde Attilio Profetis gesamte Familie zur Taufe
von Edoardo Casatis Letztgeborenem eingeladen. Während der alte Zelebrant
dem Neugeborenen den programmatischen Namen Patrizio verlieh, wirbelte
ein Luftzug, der durch die Kirche wehte, eine lange Strähne von seinem
Schädel auf, so dass sie hoch in die Luft stand. Ein Junge in Ilarias Alter
drehte sich zu ihr um und hielt mit komplizenhaftem Blick ein Haarbüschel
von sich in die Höhe und wedelte damit herum. Ilaria brach in Gelächter aus.
»Pscht!«, raunte das Kind ihr zu und legte einen Finger auf den Mund,
machte aber immer weiter mit seinem Scherz und guckte ihr dabei fest in die
Augen. Ilaria musste noch mehr lachen, so dass sie sogar ein paar Tropfen
Pipi machte. Noch Jahrzehnte später witzelten sie über diese erste
Begegnung: Schon mit acht Jahren vermochte Piero Casati es, dass sie feucht
wurde.
Ilaria und Piero wichen den ganzen Empfang über nicht voneinander. Die
vielen Hundert Gäste in dem großen Garten der Villa an der Via Salaria
sorgten dafür, dass ihre Eltern sie vergaßen. Sie hatten noch keine zwei
Stunden miteinander gespielt, als er sie fragte, ob er sie küssen dürfe. Sie war
so glücklich über diesen Vorschlag, dass sie wegrannte. Er rannte hinter ihr
her mit einer Schachtel Schokopralinen, die er in einem großen Raum mit
lauter Regalen geklaut hatte, und schlug ihr ein Spiel vor. Er hielt ihr die
Augen zu, während sie auf gut Glück eine Praline auswählte, die über ihr
Schicksal entscheiden sollte. Nusspraline: Kuss. Schwarze Schokolade:
Ohrfeige (also sie bei ihm). Weiße Schoko: Zungenkuss.
Beide waren erleichtert, als Ilaria keine weiße Praline zog – sie fanden die
Vorstellung beide etwas eklig. Aber auch enttäuscht: Ilaria hielt eine Praline
mit schwarzer Schokolade hoch. Aus Wunsch und Sorge zugleich, dass die
Ohrfeige wie ein Streicheln ausfallen könnte, versetzte sie ihm einen
schallenden Schlag. Als sie sah, wie er sich die schmerzende Wange hielt,
schlug sie teils aus Mitleid, teils um die Gelegenheit zu nutzen, vor: »Ich
mache die Augen noch mal zu und ziehe noch eine. Wenn sie wieder schwarz
ist, darfst du mir eine Ohrfeige geben, und wir sind quitt.«
Doch Piero hielt ihr die Praline unter die Finger, die sie beide sich
sehnlichst wünschten. »Nuss!«, rief er mit gespielter Überraschung und
echter Freude, als Ilaria die Augen öffnete. Von den höheren Regeln des
Spiels gezwungen, gaben sich Ilaria und Piero den ersten Kuss ihres Lebens.
Ein Jahr später, Ilaria war in der dritten Klasse, erkrankte ihre Lehrerin

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