Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Haddas nickte.
Marella ließ sie allein, und sie probierte ihre neue Uniform an. Als sie in
den Spiegel schaute, lächelte sie. Sie hatte ihr von Krieg und Armut zerstörtes
Land verlassen müssen, doch war sie nun in diesem anderen Land, das ihr aus
der Ferne sehr vertraut vorkam. Sie hatte schon als Kind viel darüber gelernt.
Sie kannte alle Regionen Italiens, auch die in den Alpen, indem sie sich wie
jeder italienische Schüler an ihren Initialen entlanghangelte:
Macongranpenalerecagiù. Sie wusste, wer San Remo gewonnen hatte und
wer den Giro d’Italia, denn bei den Asmara waren das wichtige Ereignisse,
und im Kino Roma hatte sie die Filme mit Bud Spencer und Terence Hill
gesehen – vielleicht würde sie die beiden ja persönlich kennenlernen!
Während sie so ihre neue Arbeitskleidung – eine typisch italienische
Uniform – im Spiegel betrachtete, fiel ihr ein Lied ein. Damit hatten sie jeden
Morgen im technischen Institut, wo sie ihren Schulabschluss gemacht hatte,
den Unterricht begonnen: »Frate-lli / d’I-ta-alia / l’I-ta-lia / s’e de-esta ...«
Sie summte die Strophen leise vor sich hin, gegen die Furcht und das
Heimweh. Sie gaben ihr Hoffnung. Bestimmt wurde auch hier, sagte sich
Haddas, jeden Morgen die wunderbare italienische Hymne gesungen.
Am ersten Abend machte sie Lasagne, und sie gelang ihr gut. Marella
fragte Attilio, ob es ihm schmecke. Er war noch immer sehr besorgt über das,
was Anita ihm einige Tage zuvor mitgeteilt hatte, und lobte das Essen
mechanisch, ohne den Blick vom Teller zu heben und das neue Mädchen
richtig zu bemerken, das sie bediente.
Am zweiten Abend sagte Attilio zu Marella, er habe ein Arbeitstreffen,
und aß bei seiner Geliebten.
Am dritten Abend bereitete Haddas einen Braten zu, der sehr gut ankam.
Die Kinder mochten vor allem die Rosmarinkartoffeln, knusprig aus dem
Ofen. Da erst bemerkte Attilio die junge Frau mit den violetten Schatten
unter den Augen, die geräuschlos die Teller abräumte.
»Woher kommt sie?«, fragte er Marella. Seit Monaten, vielleicht sogar
seit Jahren, richtete er beinahe nie von sich aus das Wort an seine Frau.
»Aus Eritrea. Don Samuele hat sie mir vermittelt.«
Attilio folgte Haddas mit dem Blick: das Wiegen in den Hüften, die
feingliedrigen Bewegungen. Er blickte auf ihre schwarzen Handgelenke,
während sie seinen Teller abräumte. Als sie sich vorbeugte, um nach der

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