Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Emilio und Federico aßen mittags auswärts. Diese zwei jungen Männer, so
ähnlich und doch so unterschiedlich, verließen das Haus stets, ohne sich zu
verabschieden, wie junge Raubtiere, die sich von einem abgenagten Gerippe
wegtrollen. Dies führte bei Attilio zu einem unterschwelligen Zorn, der ihn
jedoch nie dazu motivierte, sich ihnen gegenüber als Erzieher zu
positionieren. Und auch nicht, sich einzugestehen, dass er sich in seiner
Familie seit vielen Jahren genauso verhielt.
Attilio holte sich ein Glas Wasser in der leeren Küche, die in herbstliches
Licht getaucht war. Hinter dem Spülbecken führte ein Durchgang ohne
Türzargen in die Waschküche. Als sie in dieses Wohnviertel im Norden
Roms gezogen waren, war der große Raum hinter der Küche ganz den
Waschmaschinen, Wäscheleinen und Bügelbrettern überlassen worden. Für
Marella war dies das wichtigste Symbol für den sozialen Aufstieg ihres
Mannes: die ersehnte Rückkehr, nach den verlorenen Jahren als verarmte
Waise, zu der arg vermissten bürgerlichen Ehrbarkeit ihrer Kindheit.
Durch die Waschküche gelangte man in die Mädchenkammer. In
fünfzehn Jahren hatte Attilio nur einmal das kleine Zimmer betreten, das nun
Haddas gehörte, nämlich als er mit Marella und dem Immobilienmakler die
Wohnung besichtigt hatte. Aus einem Impuls heraus stellte er das Glas auf
den Beckenrand und betrat es zum zweiten und letzten Mal in seinem Leben.
Die Kammer war winzig, es passten kaum ein metallenes Bettgestell und
ein kleiner Nachttisch hinein, auf dem das Bild eines koptischen Erzengels
stand. Im Vergleich mit diesem engen Raum wirkte die Waschküche wie ein
Kirchenschiff. Das kleinste der übrigen Schlafzimmer gehörte Ilaria und war
mehr als doppelt so groß. Ein niedriges Fenster ging auf einen Hofschacht
hinaus, durch den man nicht mal in den Himmel schauen konnte. Hinten
trennte ein Raumteiler aus Kunststoff die Toilette und ein Waschbecken vom
übrigen Raum. Es gab weder eine Dusche noch Platz für einen
Kleiderschrank. Unter dem Bettgestell lag der abgewetzte Koffer der jungen
Eritreerin, aus dem ein Zipfel weiße Gaze hing.
So erblickte Marella ihn, als sie noch einmal zurückkam, um einen
Kuchen zu holen, den sie in der Küche vergessen hatte: Attilio stand im
Mädchenzimmer, das Gesicht in Haddas Tuch vergraben. Auch wenn sie ihn
nur von hinten sah, bestand kein Zweifel daran, was er tat. Er atmete mit
geschlossenen Augen ihren Duft ein. Marella wusste nichts von Anita, und
auch nichts von Abeba, man könnte sagen, dass sie so gut wie gar nichts

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