Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

In diesem Sommer, wenige Monate nach der Geburt des kleinen Attilio
Profeti, überredete Marella ihren Mann, auf ihrer Reise ans Meer einen Halt
in Lugo einzulegen.
»Seit der Beerdigung deines Vaters waren wir nicht mehr da«, sagte sie.
»Du und Otello, ihr seht euch nur, wenn er nach Rom kommt. Er ist dein
Bruder, du solltest dich mehr um ihn kümmern. Ich wünschte, ich hätte eine
Familie ...«
Doch mit Familie war Attilio mehr als genug beschäftigt. Für diesen
Sommer hatte er einen ausgeklügelten Schlachtplan entworfen, wie ein
Heeresgeneral vor dem übermächtigen Feind (eine Kombination aus den
Bedürfnissen zweier Ehefrauen, zweier Haushalte inklusive ihrer
Zuarbeiterinnen sowie seiner vier Kinder auf dem europäischen Kontinent).
Er würde seine offizielle Familie im Auto von Rom in das Hotel in den Alpen
fahren, dann würde er an dem nahegelegenen Bahnhof seine geheime Familie
abholen (Anita, Neugeborenes, Amme), die mit dem Zug kam, um sie in
demselben Tal in einem anderen Hotel abzusetzen, das nur wenige Kilometer
entfernt war, um dann den Urlaub über – wenn man das überhaupt so nennen
konnte – zwischen beiden hin und her zu pendeln. Das harte Leben als
Bigamist in der Sommerfrische, das er nur mit eiserner Disziplin würde
durchstehen können. Deshalb nahm er Marellas Vorschlag nicht gerade
begeistert auf. Doch seit Attilio Profeti junior geboren war, lag sein
Hauptbestreben darin, keinen Anlass zu Streit, Vorwürfen oder – Gott
bewahre – Verdächtigungen zu geben. Und keine kostbare Energie zu
verschwenden, die so sparsam dosiert wurde wie die unzureichenden Stunden
Schlaf. Also willigte er ein.
Zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren fuhr Attilio Profeti übers Land
nach Lugo. Die Landstraßen waren nicht mehr, wie noch bei Ernanis
Beerdigung, gesäumt von Laken mit der Aufschrift »Wir wollen die
Trockenlegung«, die aus baufällig aussehenden Häusern hingen, in denen
Familien mit dreizehn Kindern wohnten. Jetzt, 1976, wirkte es so, als habe
ein Grundschulkind ein paar Häuser in die Landschaft gemalt, die nach wie
vor flach wie der Busen einer Greisin war, mit Obsthainen, so weit das Auge
reichte, und den klaren Linien der Pappeln. Quadratische Häuschen mit
kleinen Gärten, in denen Zeichentrickfiguren standen, alle mit Wasserfarben
koloriert – Sonnengelb, Grasgrün, Babyrosa und Schlumpfblau. Diese neuen

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