Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Häuschen standen zwar nebeneinander, schienen aber nichts voneinander zu
wissen. Als müssten ihre Bewohner sich erst noch mit dem verwirrenden
Wohlstand arrangieren, der über sie gekommen war; als kämen sie gar nicht
dazu, von ihren Nachbarn Notiz zu nehmen.
Lugos Zentrum sah noch genauso aus wie früher. Die gleichen roten
Backsteingebäude, der weitläufige Pavaglione mit seinen Arkaden und
Einkaufsläden, die Festung mit der Gedenktafel für den Märtyrer des freien
antiklerikalen Denkens, dem Ilarias Urgroßvater seinen Spitznamen »Der
Toleriertnicht« verdankte. Und vor allem das Denkmal für den Jagdflieger
Francesco Baracca, der immer noch ungeachtet der irdischen Wechselfälle
seiner Mitbürger in die luftige Ferne spähte, wenngleich seit dem Tod seiner
Mutter, der Gräfin Paola Maria Costanza Biancoli verehelichte Baracca,
genannt Paolina, niemand mehr seine zahlreichen Verdienstorden spazieren
trug.
Otellos Haus befand sich in der Nähe des Bahnhofs, nicht weit von dem
Haus, in dem er und Attilio aufgewachsen waren. Die Wohnung war
vorzeigbar und wurde von seiner Frau Sandra tadellos in Ordnung gehalten.
Das Essen, das man der Verwandtschaft aus Rom servierte, war schmackhaft.
Und doch empfand Attilio beim Betreten der Wohnung eine Mischung aus
Klaustrophobie und Unbehagen. Nachdem Otellos Traum,
Eisenbahningenieur zu werden, geplatzt war, hatte er sich mit einem Beruf
abgefunden, der nicht für ihn gemacht war – Mathematiklehrer an einer
berufsbildenden technischen Schule –, und hatte mit dem letzten Funken
Bedauern auch alle Sehnsüchte begraben. Ilaria aber sah etwas ganz anderes:
zwei Eheleute, die im Gegensatz zu ihren Eltern häufig das Wort aneinander
richteten, manchmal sogar mit einem Lächeln wie Menschen auf gleicher
Augenhöhe.
Das Mittagessen verlief betont höflich, bis die beiden Brüder sich in den
kleinen Salon setzten und auf ihren Espresso warteten. Marella half Sandra
beim Abräumen, Federico und Emilio standen rauchend mit den drei Cousins
auf dem Balkon. Ilaria hatte ihr Buch im Auto vergessen, Die Schatzinsel,
und langweilte sich so sehr, dass sie sogar das Etikett des Spülmittels
durchlas. Auf dem Couchtisch vor dem Sofa, auf dem der Vater und Onkel
saßen, lag eine Zeitschrift, bestehend aus wenigen Schwarz-Weiß-Seiten. Sie
nahm sie.
Der Titel Volontà war in der kantigen Schrift der Vorkriegspropaganda

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