Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

bei der enervierenden Langsamkeit der Nationalbibliothek – auf eine
unbedeutende Namensgleichheit?
Marella verlangte keine Erklärung von Attilio, weder an diesem Tag noch
an den darauffolgenden. Und ging auch nicht selbst los, um nachzulesen, was
in dem Buch mit dem heiklen Titel stand. Das tat sie erst viele Jahre später,
als Attilio schon Anita geheiratet hatte. Einer der vielen Momente, in denen
Marella klar wurde – »Endlich!«, hätte Ilaria als Teenager mitleidlos
gesagt –, dass sie nichts über den Mann wusste, dem sie drei Kinder und
dreißig Lebensjahre geschenkt hatte, schlimmer noch, dass sie nur Falsches
über ihn wusste. Einer dieser Momente, in denen sie an der Realität und dem
eigenen Leben zweifelte, in das tiefe Loch stürzte, das sich bei der
Entdeckung des Doppellebens ihres Mannes vor ihr aufgetan hatte, und es
nur eine Chance gab, sich ihre Existenz zurückzuholen – indem sie versuchte,
zu begreifen.
An jenem Tag jedoch entschied sie sich einmal mehr für das kluge Gerüst
der Lüge und der selektiven Blindheit, das notwendig war, um den porösen
Rest ihrer Ehe aufrechtzuerhalten, wie ein Ektoskelett, das einen
Querschnittsgelähmten stützt. Sie zerriss den Schnipsel und warf ihn in den
Papierkorb.
»Und wieder einmal warst du es, die die anderen auf die Spur der
Wahrheit setzte, ob sie wollten oder nicht«, sollte Lavinia später, viel später,
zu Ilaria sagen. »Ich wundere mich häufig, dass deine Familie dich nicht
längst erwürgt hat.«
»Jeder von ihnen hatte immer mindestens eine Person, die er noch vor mir
gerne erwürgt hätte.«
Eines Morgens brachte Attilio Ilaria wie immer eilig zur Schule. Sie fuhr
mittlerweile mit dem Mofa, doch an diesem Tag regnete es. Seit Wochen
schon grübelte sie über etwas nach, das sie ihren Vater fragen wollte, doch zu
dem selbst ihr der Mut fehlte. Sie war sechzehn und kein Kind mehr, sie sah,
was vor sich ging. Sie wollte ihm sagen, dass sie wusste, warum er um drei
Uhr morgens nach Hause kam (manchmal hörte sie den Schlüssel, wenn sie
selbst gerade erst in die Wohnung gehuscht war, nach einem der Abende
einer allzu freien Teenagerin, von denen Marella nichts wusste). Sie wollte
ihm von den stummen Telefonanrufen erzählen, die sie angenommen hatte.
Vor allem wollte sie sagen, dass sie groß war, dass er zwar ihre Mutter

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