Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

betrüge, aber sich keine Sorgen um sie machen musste, sie glaube ohnehin
nicht an die bürgerliche Ehe.
»Darf ich dich was fragen, Papà?«
Attilio drehte sich fröhlich zu ihr um. »Du? Etwas fragen? Oh mein Gott,
was ist passiert, das hat es doch noch nie gegeben!«
Doch Ilaria lachte diesmal nicht. Sie wusste, wenn sie nicht sofort zum
Punkt käme, würde sie sich nicht mehr trauen und dann wäre die Autofahrt
schon wieder vorbei. »Du hast eine Geliebte, stimmt’s?«
Attilio Profetis rechtes Profil war seiner Tochter wohlbekannt. Seit zehn
Jahren sah sie es an jedem Werktagsmorgen fast eine halbe Stunde lang,
wenn er sie zur Schule fuhr. Ilaria war Zeugin eines kaum wahrnehmbaren
Verfalls gewesen, des Übergangs von der beinah jugendlichen Präzision der
Umrisse zu den ersten Vorzeichen der großen Unumkehrbarkeit, die seine
Züge am Ende fast unkenntlich machen würde. Doch sie hatte nie gesehen,
dass er rot wurde.
»Sieh mal, mein Stern ...«, begann Attilio. Doch er konnte nicht
fortfahren.
»Ach, Papà, reg dich nicht auf. Mir kannst du es ruhig sagen. Ehrlich.
Das ist kein so großes Problem für mich.«
Attilio Profeti trat auf die Bremse, ohne dass ihm jemand auffuhr. Zum
Glück war der Verkehr in Rom damals noch nicht der endlose, dichte Fluss
Stoßstange an Stoßstange, zu dem er in den kommenden Jahrzehnten werden
würde. Er sah sie an. In diesem Moment wusste Ilaria, dass er ihr etwas
anderes mitteilen wollte, als sie erwartet hatte, und war sich nicht mehr
sicher, ob sie es hören wollte. Doch nun war es zu spät.
»Sieh mal, Ilaria«, hatte ihr Vater wieder angesetzt. »Ihr seid nicht zu
dritt, ihr seid ...«
Dieses Zögern begriff Ilaria erst viele Jahre später, als der Junge auf dem
Treppenabsatz stand: Darin lag Attilio Profetis Entscheidung, ein Stück des
Geheimnisses weiterhin für sich zu behalten – zumindest vorerst.
»... zu viert.«
Nein, damit hatte Ilaria nicht gerechnet.
Ihre Miene wurde zu Stein. Als hätten sie auch bei ihr wie bei ihrem
Vater in jungen Jahren Gips mit einer Kelle aufgetragen, um einen
Gesichtsabdruck zu nehmen. Oder eine Totenmaske.
Die Röte war aus Attilio Profetis Gesicht gewichen, er hatte sich wieder

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