Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

11


2010


Man stelle sich eine Computeranimation vor, die aus der Nähe in die
unfassbare Weite des Weltraums zoomt, ausgehend von einem Detail
menschlicher Größenordnung. Das ist in diesem Fall der Punkt zwischen
Ilarias Augen. Sie liegt auf dem Bett, in ihrer Wohnung im sechsten Stock
auf dem Esquilin, im Zentrum Roms, also genau in der Mitte des grauen
Kreises, den der Autobahnring bildet, drumherum römische Campagna und
Schafe, die nie mit einem Fallschirm abgesprungen sind. Im Westen das
glitzernde Meer, im Osten die dunklen Flächen des Apennin, die Mitte des
Stiefels, der mit seiner wunderschönen Form bekanntermaßen im Herzen des
Mittelmeers liegt. Dann werden allmählich Europa und Afrika sichtbar, in
dessen Horn sich – wie Ilaria nun weiß – wichtige Teile im Leben ihres
Vaters Attilio Profeti abgespielt haben, dann, der Ausschnitt wird größer und
größer, erscheint die blauschimmernde Erde, geriffelt von weißen
Atmosphärenwirbeln, die im schwarzen Weltraum schweben, umkreist von
ihrem grauen, pockennarbigen Trabanten, dann Venus und Mars und noch
weiter Jupiter, Saturn und der exzentrische Pluto, bis man aus dem
Sonnensystem heraustritt. Bis auch unser Stern nur noch einer von vielen in
der Galaxie ist, selbst nur einer der unendlichen Sternenstrudel mit
spiralförmigem Arm, und langsam in die Ferne rückt, durch Nebel und
schwarze Löcher und immer schrecklichere dunkle Strecken, wo das
kosmische Nichts herrscht, gestreift von unsichtbaren Gravitationswellen und
dem letzten Widerhall des großen Urknalls. Und doch bleibt man in der
ganzen, umfassend gezeigten Unermesslichkeit des Universums immer bei
seinem Zentrum, egal wie weit es entfernt ist: der Stelle zwischen Ilarias
Augen, der reglose Ausgangspunkt von allem.
Die Lider öffnen sich.
In Ilarias Universum beginnt ein neuer Tag.
Sie bleibt still im Bett liegen und beobachtet den Übergang vom Schlaf
zum Wachwerden. Sie weiß nicht, ob sie geträumt hat. Die Bettdecke liegt

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