Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

sich nach den kleinen Fortschritten des modernen Wohlstands, der wie das
junge Frühlingsgrün unter den Trümmern hervorschaute.
Die zwei blutigen Jahre der deutschen Besatzung hatten es möglich
gemacht, dass eine Mehrheit der Italiener sich in einer der beiden
Hauptpersonen des nationalen Bilderreigens wiederfand, entweder in dem
wehrlosen Opfer oder in dem Partisanen, dem Helden des Widerstands. Die
meistgenannte Front kurz nach Beendigung des Krieges war die russische,
wo die armen, ins Eis geschickten Soldaten mit ihren Pappschuhen
gezwungenermaßen Mitleid erregten. Viel weniger bis gar nichts hörte man
über die Besetzung Jugoslawiens und Albaniens. Und ganz totgeschwiegen
wurde die Beschwerde eines Generals in Slowenien: »Hier wird viel zu
wenig gemordet!« Die Besetzung Griechenlands, dessen Leuten einstmals
quasi jeder italienische Pennäler den eigenen Worten nach »alle Knochen
brechen« wollte, tauchte nur als Massaker der Deutschen an den italienischen
Soldaten im Anschluss an den 8. September in den Berichten auf. Doch die
größte Stille überhaupt lag über den Heimkehrern aus den kolonialen
Unternehmungen. Das Horn von Afrika hatte sich offenbar quasi von selbst
besetzt. Im Italien der fünfziger Jahre waren die Ex-Kolonisten noch
unsichtbarer als die Ex-Faschisten, eingeschlossen in eine undurchdringliche
Schale des Schweigens.
Wie allen anderen Beamten des ehemaligen Kolonialministeriums wurde
Attilio die Versetzung in ein anderes Ressort angeboten. Er lehnte ab. Er
spürte, in den allzu absehbaren Fluren des Ministeriums würde er seinen
guten Draht zum Glück nur vergeuden, ganz abgesehen von seinem Ehrgeiz.
Mit dem Gehalt eines Staatsangestellten konnte er seine Familie ernähren,
das schon, wie viele seiner Kollegen es taten. Die mit »gesundem
Menschenverstand« begründeten, all die Dinge nicht anzustreben, die das
Einkommen ihnen verwehrte. Doch Attilio Profeti hatte sich noch nie für das
interessiert, was er nicht konnte.
Der Glücksstern, auf den er zu Recht setzte, begegnete ihm in Form einer
Heiratsanzeige im Messaggero. Der junge weibliche Spross einer Familie,
nach der ein römischer Platz benannt ist, verkündete die Eheschließung mit
Ingenieur Edoardo Casati. Dies las Attilio in der Bar vor seinem Haus, wo er
nach der Arbeit Halt machte, um die Konfrontation mit Marellas peinlicher
Glückseligkeit hinauszuzögern, mit der sie ihn jeden Abend empfing. Vor
allem gerade, da sie zum dritten Mal schwanger war und der Mann, mit dem

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