Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

sie nun verheiratet war, sie nicht mehr zwang, sich auf die Liege der
Engelmacherin zu legen. Er musterte eingehend das Foto. Ja, das war er. Er
erkannte ihn.
Am nächsten Morgen präsentierte er sich in einem Büro auf der Beletage
eines nach den Idealmaßen der Renaissance erbauten Palazzos. Jede
Treppenstufe war so breit wie die Hälfte des Flurs, der bei ihm zu Hause das
Esszimmer von der Küche trennte. Attilio Profeti hatte keinen Termin, doch
Ingenieur Edoardo Casati bat ihn sofort herein, als ihm sein Name genannt
wurde.
»Sie sind doch der, der mir das Leben gerettet hat«, begrüßte er ihn,
während die Sekretärin die Tür seines Büros hinter sich schloss.
Attilio durfte vor dem edlen Schreibtisch in dem holzvertäfelten Raum
Platz nehmen. Durch das Fenster drang das Plätschern eines der schönsten
Brunnen der Hauptstadt. »Ja ...«, erwiderte er und zwang sich, nicht an die
freskoverzierte Zimmerdecke zu schauen. Er wollte dem Altersgenossen
nicht zeigen, wie sehr ihn die Pracht des Büros beeindruckte.
»Und deshalb bitten Sie mich nun um Arbeit.«
»Nein, also ich ...«
»Aber ja doch«, unterbrach ihn Casati. Weder unhöflich noch ärgerlich,
sondern einfach nur, weil dies zu seinen Privilegien zählte. »Sie glauben,
dass ich Ihnen dankbar sein muss und Ihnen daher etwas schulde. Aber Sie
irren sich.«
Attilio machte den Mund auf, schwieg jedoch nach einer knappen
Handbewegung Casatis.
Sein Gegenüber war kleiner als er und entschieden weniger attraktiv. Eine
leicht niedrige Stirn, die Augen von schlichtem Braun und ein bisschen zu
eng beieinander. Hätte in diesem Moment eine Frau das Zimmer betreten,
hätte sie von den beiden nicht Edoardo Casati als Ersten angelächelt. Und
dennoch war die Selbstgewissheit, mit der er trotz seiner noch jungen Jahre
um seinen Platz in der Welt wusste, härter, weißer und glatter als die
griechisch-römischen Marmorskulpturen im Hof.
»Sie müssen wissen, Profeti, dass ich nicht an Dankbarkeit glaube. Ich
halte sie für das Unheilvollste, was menschlichen Beziehungen passieren
kann: in der Liebe, bei der Arbeit, bei Freundschaften. Dankbarkeit ist eine
schreckliche Last, die nur wenige große Geister ertragen können. Ich bin kein
großer, sondern nur ein mittelmäßiger Geist, deshalb meide ich sie, wo ich

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