Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Punkt, wo der Wille winziger Menschenwesen tonnenschwere Monster zum
Gehorsam zwang, die, statt sie zu zerquetschen, sanft in eine andere Spur
glitten, hintereinander hertänzelnd wie eine Reihe von Ballerinen. In der
Weiche erkannte Ernani Profeti das Beste des Menschen: den
Erfindungsgeist, die Einfachheit, die Herrschaft des Geistes über die Materie,
aber auch seine manuellen Unzulänglichkeiten. Die älteren Weichenwärter
steckten ihre Schlüssel in das Riegelhandschloss, das niemand sonst berühren
durfte, als sei es eine Reliquie, mit mathematischer Präzision, die die rohe
Kraft der Jüngeren lächerlich machte – und von ihnen daher gern verspottet
wurde. Und auch wenn sie niemals gewagt hätten, den Bahnhofsvorsteher
anders anzusprechen als mit dem faschistischen »Ihr« oder dem
republikanischen »Sie«, wusste Ernani doch, obwohl er als Zeichen des
Respekts für die eherne Eisenbahner-Hierarchie immer mit »du« antwortete,
dass die Erfahreneren unter den Weichenwärtern einen ganzen Bahnhof
hätten leiten können, genau wie er. Sie konnten die Züge rollen lassen.
Unter den Schwerstarbeitern waren viele frühere Partisanen. Im letzten
Kriegswinter hatte Ernani ein Flugblatt auf seinem Schreibtisch gefunden.
»Was tust du, Genosse Eisenbahner? Du musst handeln! Die Nazifaschisten
lassen Italien ausbluten, sie transportieren unsere Männer und Frauen ab,
Maschinen, Korn, alles! Du kannst viel tun, Genosse Eisenbahner, du musst
es nur wollen! Du musst den Schienenverkehr sabotieren!« Er hatte den
Zettel mit zittrigen Fingern in die Tasche gesteckt, ihn aber dann doch lieber
verbrannt. Natürlich hasste auch er die Deutschen, seit jener Oktobernacht, in
der sein Leben erloschen war. Doch die Vorstellung, die Eisenbahn zu
sabotieren, ertrug er nicht. Er wusste, dass mancher Rangierer Glaspulver in
das Schmierfett der Radnaben mischte. Das Schleifmittel gelangte zwischen
Radachse und Gleitlager, die Räder fraßen sich fest, der Zug kam zum
Stehen, und die Nazis wussten nicht, wen sie dafür erschießen sollten.
Größtmögliche Sabotage, minimales Risiko für Repressalien. Doch für
Ernani war die Eisenbahn nun mal der Stoff, aus dem er selbst gemacht war.
Als die Nazis auf der Flucht die Eisenbahnbrücken hinter sich in Brand
setzten, als sie rauchende Lokomotiven wie lebendes Vieh die Böschungen
hinabstießen, hatte er gelitten, als wäre er auf eine Mine getreten. Den
schlimmsten Schmerz bereitete ihm der »deutsche Pflug«, die metallene
Kralle, die sie hinten an ihre Konvois banden, mit denen sie nach Norden
flohen. Viele Hundert Kilometer herausgerissene Schwellen hatten sie

Free download pdf