Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

zwischen Rom und Mailand, genannt Settebello – ein Wunderwerk, keine
Frage. Doch der alte Bahnhofsvorsteher konnte es nicht fassen, dass die
Fahrkarte dreizehntausend Lire kostete, was dem Monatsgehalt eines
Weichenwärters entsprach. Und ja, die dritte Klasse war abgeschafft worden,
aber auf dieselbe Art, wie sich bestimmte Typen während des Faschismus als
Fähnlein im Wind gedreht hatten, um dann rechtzeitig zum 26. April 1945
plötzlich zu entdecken, dass sie die dicksten Partisanenfreunde waren: Denn
die alten Waggons waren tatsächlich dieselben geblieben, die unbequemen
Holzbänke waren dieselben, nur die »3« auf der Seitenwand war durch eine
»2« ersetzt worden.
Sein natürlicher Nachfolger wäre Otello gewesen. Sein Ältester hätte
nach dem mit Bestnote abgeschlossenen Ingenieursstudium weit mehr als ein
einfacher Bahnhofsvorsteher werden können, er hätte es bis zum
Betriebsführer geschafft. Ernanis Augen blitzten bei dem Gedanken an seinen
Sohn als Mitglied des Kollegiums der italienischen Eisenbahningenieure.
Niemand wäre geeigneter für die neuen Zeiten als Otello Profeti, niemand
hätte leidenschaftlicher und qualifizierter die Züge in Richtung Zukunft
rollen lassen. Doch seine Bewerbung war abgelehnt worden. Die
republikanische Staatseisenbahn, so hieß es, stelle keine ehemaligen
Faschisten ein.
Das war nicht gerecht, und Ernani wusste das. Doch was Recht und
Unrecht war, hatte Ernani Profeti nie laut aussprechen können, noch
zwischen den beiden Optionen wählen können, wie es ihm gerade passte. Bis
auf ein einziges Mal, und das hatte zum Tod eines geliebten Menschen
geführt. Auch deshalb sprach er mit Otello niemals über den zerbrochenen
Familientraum oder das erlittene Unrecht. Eigentlich redete er fast gar nicht
mehr.
Auch nicht mit Attilio. Doch seinen Zweitgeborenen sah Ernani ohnehin
nur noch an Weihnachten. Er kam mit seiner frisch angetrauten Frau, einem
hübschen Mädchen, das offensichtlich in ihn verliebt war, an die er aber nur
selten das Wort richtete. Wer weiß, warum er sie geheiratet hatte, fragte sich
der Vater, bis acht Monate nach der Hochzeit der erste Sohn geboren wurde,
und er begriff. Er musste einsehen, dass er ihm recht wenig über eheliches
Glück mitgeben konnte, denn er war bei seiner Hochzeit mit Liebe
vollgesogen gewesen wie ein Keks mit Milchkaffee, und trotzdem hatte es
nicht gereicht. Es lag auf der Hand, dass dieser junge Mann, der Viola

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