Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

13


2010


Es ist ein dicker, in Leder gebundener Band, dessen Seiten nach alten
Sägespänen riechen. Der Titel lautet Physiologie des Hasses, Verfasser ist
Paolo Mantegazza. Manche Sätze sind unterstrichen:
Der Eingeborene ist von den widerwärtigen Ausdünstungen seiner
Haut umhüllt, und dieser körperlichen Weiblichkeit entspricht auch
seine Moral. Er hat die Züge eines Kindes, wie auch die schwarze
Frau ein großes Kind ist, eine Mischung aus Schwäche und
Unterwürfigkeit, bestialisch und sanft zugleich.


Ilaria fragt sich, ob es die Hand ihres Vaters war, die diese kraftvollen
Markierungen vorgenommen hat.
Der Inhalt der Blechdose ist nicht chronologisch geordnet, und Ilaria
fischt auf gut Glück darin herum. Sie zieht eine Zeitungsseite aus dem Resto
del Carlino von 1936 hervor, den glatten Rändern nach zu urteilen
ausgeschnitten. Sie zeigt eine Gruppe von Schwarzhemden auf dem Gipfel –
so die Bildunterschrift – des gerade eroberten Amba Work. Hinter ihnen im
undeutlich körnigen Schwarz-Weiß das Hochplateau, so weit das Auge
reicht. Aus ihrer Mitte sticht etwas vor den anderen ein hübscher Junge mit
Halbstarkenmiene hervor. Er braucht sich nicht in die Brust zu werfen wie
seine untersetzteren Kameraden, um alle zu überragen. Er hält die
Fahnenstange mit der italienischen Trikolore in der Hand. Ilaria erkennt ihn
sofort. Allerdings nicht am Gesicht, das viel jünger ist als das des Vaters, den
sie kennengelernt hat, sondern an der Haltung.
Ein Stapel mit zahlreichen Briefen von Attilio an seine Mutter Viola ist
mit einem Seidenband zusammengebunden. Ilaria entziffert mühsam die
spitze Handschrift des Vaters, als er noch jung war. Er beschreibt die
Insekten von Abessinien: »Tagsüber Fliegen, nachts Moskitos, jederzeit
Spinnen und Skorpione und auch Ameisen, die innerhalb einer Minute eine

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