Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

offene Dose mit Kondensmilch für sich erobern, die man auf dem Boden
vergessen hat. Zecken fressen deine Fußknöchel auf, Läuse klammern sich an
die Hemdnaht ...« Die Tiere: »Es gibt Schakale, Affen, Gazellen, Hasen,
Murmeltiere, Warzenschweine, Ameisenbären, Wildschweine, Leoparden,
Krokodile. Und Hyänen, riesige Viecher mit Gladiatorenschultern und
schrecklichen Beißkiefern, die beim Marschieren ganz nah an uns
herankommen, wenn sie wittern, dass einer der Esel bald zusammenbricht.«
Er zählt die Namen der Vögel auf, von denen er, wie er schreibt, oft noch nie
etwas gehört hat: »Turakos, Hornvögel, Purpurglanzstare, Großtrappen,
Wiedehopfe, Rotbauchwürger, Hohltauben, schwarze Frankolinen, Geier und
viele, viele Perlhühner, die gebraten sehr gut schmecken.« Die menschlichen
Bewohner erwähnt Attilio nicht, als wären sie Teil der Landschaft und nicht
seiner eigenen Spezies. Nur in einem Brief, wo er der Mutter einen in
Lumpen gekleideten Mann beschreibt, der eine Eisenspitze an einen Stock
gebunden hat und damit einen kleinen Acker pflügt und dem
vorbeimarschierenden Armeekorps hinterherschaut, dessen Panzer eine
Staubschicht über ihn breiten wie auf eine Statue. Dieser Anblick bringt ihn
auf manche Gedanken, die er natürlich wie gewohnt mit seiner Mutter Viola
teilen möchte. »Auf mich wirkte er weniger wie ein Mensch, als wie ein
Relikt aus uralten Zeiten. Der Bewohner eines Ortes, der eingetaucht ist in
eine reglose Schläfrigkeit, aus der nur die römische Kultur ihn zu erwecken
vermag. Unsere leuchtende Zivilisation steht im Vergleich zu dem Leben
dieser Leute wie der Wind zum Raum, wie der Geist zur Materie. Hier gibt es
keine Ideen, kein Bewusstsein, keinen Gedanken. Daher lässt sich kaum von
der Vereinigung zweier Kulturen sprechen. Der Kontrast zwischen unserem
Volk und ihrem ist so klar, so offensichtlich, dass es keiner Polemik bedarf.
Ich weiß nicht einmal genau, ob man als Volk bezeichnen kann, was auf so
animalische Weise lebt.«
Ganz anders, direkter und großmäuliger, die an Otello adressierten
Postkarten. Unter dem Schriftzug »Abessinische Visionen« ist eine Karte
durch eine vertikale Linie in zwei Hälften geteilt: »Männer« steht auf der
linken, »Frauen« auf der rechten Seite. Erstere verlassen in wilder Flucht die
Schlacht: Einer sieht sich im Rennen angsterfüllt um, ein anderer hebt die
Arme zum Zeichen der Ergebung, wieder ein anderer fällt über seinen
lächerlich primitiven Schild. Die Frauen hingegen, in geordneten Zweier-
oder Dreiergrüppchen, stehen aufrecht und blicken dem Betrachter direkt und

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