Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gab wie etwa die Waage (zwei Mädchen auf einmal), die Lange Nacht, der
Pfau oder die Sklavin. Es war ein ehrlicher Provinzpuff vom Land, in einem
abgelegenen Gebäude, das auch ein Bahnwärterhaus hätte sein können, mit
kleinem Gartentor, einer Klematispergola, um die die Maitresse sich
kümmerte, und groben Baumwolllaken, die sich gut waschen ließen. Vor dem
Krieg hatte die einfache Nummer zehn Lire gekostet, die doppelte zwanzig,
dreißig die halbe Stunde. Es gab sogar den Service »ohne große Umstände«
für alle, die nur fünf Lire ausgeben konnten. Die Maitresse tolerierte, dass die
Klienten ein bisschen Süßholz raspelten, um den Mädchen, vor allem aber
sich selbst vorzumachen, sie zu umwerben, achtete aber aufs Wesentliche.
Ein Bordell ohne Allüren, könnte man sagen, nichts für feine Leute, aber
genau das Richtige für den Bahnhofsvorsteher Profeti und seine Söhne, die
auf eine solide Dienstleistung ohne Preisnachlass und Sonderwünsche
setzten. Bis auf die Annehmlichkeiten für besonders junge Herren, von denen
Ernanis zwei Söhne beim ersten Mal Gebrauch gemacht hatten.
Jetzt hatte Otello sich eine Blondine aus Chioggia ausgesucht mit brauner
Scham, was deshalb bemerkenswert war, da während des ganzen Krieges
kein Haarfärbemittel aufzutreiben war – vielleicht auch, weil die Puffmütter
sie samt und sonders für ihre Häuser an sich gerissen hatten. Er schaffte es
kaum bis auf ihr Zimmer. Ihr Duft – Desinfektionsmittel, alter Rauch,
Rosmarin – sorgte dafür, dass er sich mit einer Zuckung den Schritt seiner
Hose nässte, während sie sich auszog. So erging es ihm immer, seit er wieder
zu Hause war. In den langen Jahren der Kriegsgefangenschaft hatte er nur in
den Zeiten auf der Krankenstation das Gesicht einer Frau gesehen. Der
weibliche Körper war eine so ferne, abstrakte Vorstellung, dass er
irgendwann nicht einmal mehr masturbiert hatte. Umso mehr, da die
Hungerattacken ihn im letzten Jahr in Hereford viel eher von der
Verschmelzung mit Suppenschüsseln voll Cappelletti, Unmengen Zuppa
inglese und Pfannen voll mit Ragù aus fünf Sorten Fleisch hatten träumen
lassen. Doch auch mit den Essensträumen durfte er es nicht übertreiben.
Seine Magensäfte rächten sich mit einem schrecklichen Brennen an den
leeren Magenwänden. Seit er zurück war, konnte er eigentlich nichts mehr
wirklich genießen. Er aß, ohne zu merken, was er verschlang, Essen reduziert
auf den reinen Brennwert. Und seine Ejakulationen kamen häufig so jäh, dass
er gar nicht sicher war, ob es sie gegeben hatte. Als hätte das einzige Ziel im

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