Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Gefangenenlager – nämlich zu überleben – seinem Körper die Fähigkeit
geraubt, sich dem Genuss hinzugeben.
»Du bist ja ein ganz Flinker!«, hatte das Mädchen erstaunt festgestellt. In
ihrer Stimme lag kein Vorwurf, eher Erleichterung, sich das übliche Gerubbel
erspart zu haben. Sie wusste aus Erfahrung mit »flinken« Kunden, dass auch
dieser Mann unter Höchstspannung stand, und da er die Puffmutter bereits
mit den rechteckigen amerikanischen Lira-Scheinen bezahlt hatte, würde er
die verbleibende Zeit nutzen, ihr seinen Kummer anzuvertrauen. So lagen sie
auf dem nach Lysoform riechenden Bett, und sie streichelte sein wieder
erschlafftes, noch feuchtes Glied mit der Vertrautheit einer alten Ehefrau.
Und genau wie sie erwartet hatte, begann Otello zu reden.
Wenn er erzählte, dass er drei Jahre amerikanische Kriegsgefangenschaft
hinter sich habe, so berichtete er ihr, bekam er immer zu hören: »Da hast du
ja noch Glück gehabt! Im Gegensatz zu denen, die nach Deutschland
gekommen sind! In den Lagern in Amerika haben die Häftlinge zehnmal
mehr zu essen bekommen als hier im Kriegshunger«, sagten sie, »und über
ihren Köpfen flogen keine Bomben, und sie wurden für ihre Arbeit so gut
bezahlt, dass sie mit ihren Geldsendungen nach Italien ganze Familien
ernährt haben.« Wenn Otello dann vielleicht erklärte, dass das nur für die
gelte, die mit den Amerikanern kooperiert hatten, was er nicht getan habe,
sah man ihn böse an. Aha, also war er Faschist? Dann solle er doch froh sein,
dass ihm das bei seiner Rückkehr kein Partisan heimgezahlt habe. An diesem
Punkt überkam Otello eine große Müdigkeit und Traurigkeit, die ihn daran
hinderte zu erklären, dass er und andere seinesgleichen nicht deswegen nicht
kooperiert hatten, weil sie Faschisten waren, sondern aus Gründen der Ehre,
der Standhaftigkeit und der Treue zum geleisteten Eid. Dass solche wie er
sich im Lager der Nicht-Kooperierer nicht nur vor den Kommunisten in Acht
nehmen mussten, die sie für bourgeoise Feinde hielten, sondern vor allem vor
den echten Faschisten, die in ihnen Verräter sahen. Die Soldaten der
Republik hätten beinahe einen seiner Kameraden zum Schöpfer geschickt.
Aber dann, später, hatten sie fast alle unterschrieben, das
Kooperationsformular, einer nach dem anderen, und hielten es vor den
anderen geheim, wie ängstliche Mäuschen, die sich eins nach dem anderen
verstohlen aus dem Staub machen. Falsche Antifaschisten der letzten Stunde,
die den Rest der Gefangenschaft in den Ferienlagern in Portland und Fort

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