Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

tiefer fließt, und losgelöst vom Bahnhofstrubel. Hier entdeckt man
Friseursalons, die auf afrikanische Frisuren spezialisiert sind und im
Schaufenster Glättungsshampoos und Extensions ausstellen – blonde,
schwarze, aber auch in lila und grün. Lebensmittelläden mit Baobabsprossen,
Mehl aus der Kochbanane, Snacks auf Maniok-Basis. Dort verkaufen
Dutzende korpulente Nigerianerinnen mit ihren tiefen Stimmen an
Landsmänner haushaltstypische Mengen Huhn und Reis, den sie in unzählig
oft gespülte Plastikschalen verpacken. Ilaria und Attilio gehen langsam
zwischen ihnen durch, mustern die Gesichter der Männer, die an dem
Geländer des erhöhten Bürgersteigs lehnen und sich elegant mit drei Fingern
Essen in den Mund schieben, als wären sie in Benin City. Der Junge ist nicht
hier, was sie auch kaum erwartet haben, denn warum sollte ein Äthiopier
nigerianische Sachen essen?
Sie geben auf. Stundenlang sind sie durch das Viertel und weiter
gelaufen – San Giovanni, San Lorenzo, sogar bis nach Termini, auch wenn
das wegen der vielen Polizeistreifen der letzte Ort ist, wo sie ihn vermuten.
Selbst in die geisterhaften Ingrossos der Chinesen haben sie noch einmal
geschaut, vergeblich. Jetzt sitzen sie schweigend auf den roten Plastikstühlen
des einzigen Kiosks im Park der Piazza Vittorio. Attilio lässt den Kronkorken
seines Bieres auf dem Tisch rotieren und macht damit ein sinnloses,
nervendes Geräusch, das perfekt ihrer beider Gemütszustand widerspiegelt.
Plötzlich beginnt er ohne Einleitung zu reden.
»Einmal ist mir der Treibstoff aus einem schlecht zugedrehten Kanister in
die Plicht gelaufen, und ich habe es nicht sofort gemerkt.«
Ilaria saugt ihren Pfirsichsaft durch einen Strohhalm. Sie hat den Kopf
gesenkt und muss die Augenbrauen heben, um ihn anzusehen. Drei erstaunte
Linien ziehen sich quer über ihre Stirn.
»Das Meer war stürmisch, und es schwappte viel Spritzwasser herein. Ich
stand mit nackten Füßen in der Brühe aus Treibstoff und Salzwasser. Am
Anfang habe ich nichts bemerkt, meine Füße waren wie taub; außerdem
musste ich mich auf den Kurs konzentrieren. Später erst habe ich dann ein
Stechen gespürt. Da habe ich auf meine Füße geschaut, und sie waren fast
violett. Wie bei einem schweren Sonnenbrand.«
Ilaria hat aufgehört zu trinken und hört ihm aufmerksam zu. In den letzten
Tagen hat sie ihn nie so ernst gesehen. So traurig.
»Dann haben sie angefangen zu brennen. Fürchterlich. Zum Durchdrehen.

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