Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Das überlasse ich gerne dir. Du bist die Offizielle Ausgräberin
Unbequemer Familienwahrheiten, alles großgeschrieben ... Was ist das
denn?«
Vom Boden der Dose hat Attilio einen gelben Umschlag hervorgezogen.
Der Aufdruck lautet ›Autowerkstatt Carbone Severino & Söhne – Addis
Abeba‹, auf Italienisch und Amharisch, darunter steht etwas per Hand
geschrieben.
»›Operation Morbus Hansen‹«, liest Ilaria vor. »Ist das nicht der
wissenschaftliche Name für Lepra?«
Attilio hat einen Umschlag mit alten Fotos herausgefischt, die er nun
durchsieht.
»Ja. Aber die hier haben keine Lepra.«
Schweigend starren sie auf vor Schmerz verdrehte Augen, unnatürlich
verrenkte Gliedmaßen, fleckenübersäte Leiber – Blut? Verbrennungen? –, in
eleganter Schwarz-Weiß-Fotografie detailgetreu festgehalten.
»Wie hieß noch mal das Gas, das im Krieg eingesetzt wurde?«, fragt
Attilio.
Sie legt den Kopf auf die Seite, spürt, wie die Halsmuskeln sich in zwei
verschiedene Richtungen dehnen. »Yperit. Senfgas.«


Heute Abend hat Ilaria keinen Appetit und das Abendessen bei Attilio
abgelehnt. Der vor dem Nachhausegehen noch bei ihr hereingeschaut und
gesagt hat, dass er, sollte der Junge nicht bis Samstag wieder auftauchen,
nach Ligurien zurückkehrt. Die Tour für diese Woche wurde abgesagt,
weshalb er noch ein paar Tage in Rom bleiben kann, doch am Sonntag stehen
wieder die nächsten Passagiere an der Chance.
Ilaria lässt sich aufs Sofa fallen, als wolle sie darin versinken. In der Hand
hält sie die Fernbedienung, doch ihre schlechte Laune zieht sie so runter, dass
sie sich weder auf das Fernsehprogramm noch auf ein Buch konzentrieren
kann. Sie hat nicht einmal Lust, Lavinia anzurufen. Schade, gestern schien
doch alles bergauf zu gehen: der Besuch bei der Mutter, die Blechdose voll
mit konkreten Fakten. Doch das Kartengebäude aus rekonstruierten
Wahrheiten und Bedeutungen ist durch das Verschwinden des jungen
Afrikaners zum Einsturz gebracht worden. Ilaria ertappt sich bei einem fast
verräterischen Gedanken: ›Nach allem, was wir für ihn getan haben.‹ Obwohl
sie bei genauem Hinschauen nicht richtig weiß, was sie für ihn getan haben

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