Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Meshesha, Gott schütze seinen Namen. Er betrat sein Büro durch eine
Seitentür des Gerichts, in das Suor Giovanna keinen Fuß setzen wollte. »Ich
weiß von nichts«, sagte sie, »von Politik verstehe ich nichts, ich komme aus
Val Seriana in der Provinz Bergamo, Italien, was gehen mich eure
Geschichten an.« Dann setzte sie sich mit einer Limonade in den Garten des
Hilton zwischen Parteigemälde und Faranschi: amerikanische Touristen,
europäische Entwicklungshelfer, erste chinesische Auftragsnehmer. Der
Junge begriff, dass diese Sprite die beste Hilfe war, die Suor Giovanna ihm
leisten konnte, denn wer nichts weiß, kann nichts verraten. Im Büro des
Richters versuchten sie in der Zwischenzeit, den Abwesenden ihre Namen
zurückzugeben, den Verschwundenen, die nicht mehr nach Hause gekommen
waren, und denen, die gesehen worden waren, wie sie zu einem
Mannschaftswagen der Polizei gezerrt wurden. Einer nach dem anderen: Wer
war er, wann wurde er zum letzten Mal gesichtet, war er früher schon einmal
von der Polizei verhört worden? Das dauerte seine Zeit, es ging um Hunderte
von Menschen, vielleicht Tausende. Nach fast einem Jahr Recherche
veröffentlichte der Richter ein Ding, das einen bedeutungsvollen Namen hatte
und auf Englisch verfasst war, so dass der Rest der Welt es nicht würde
ignorieren können: einen Report.
Der Report besagte, dass tatsächlich ein »Massaker« stattgefunden hatte –
so lautete die Bezeichnung. Männer und Jugendliche waren bis aufs Blut
verprügelt, aus nächster Nähe erschossen, stranguliert worden. Der
Gewaltausbruch der Einsatzkräfte, die eigentlich für die öffentliche Ordnung
hätten sorgen sollen, sei gegenüber der verständlichen Verwunderung über
das Ergebnis der Stimmauszählung »exzessiv« gewesen. Und da es die
Aufgabe der Richter sei, zu sagen, was richtig und was falsch ist,
schlussfolgert der Report, dass dieses Blut, das drei Tage lang durch die
Straßen von Addis Abeba floss – im wahrsten Sinne des Wortes floss, der
Junge hatte sich eine Schuhsohle ruiniert –, nicht gerecht war.
Kopien des Reports wurden an Journalisten aus der ganzen Welt verteilt,
die nach Äthiopien geeilt waren mit derselben entsetzten Faszination in den
Augen, mit der sie von Hungersnöten berichteten. Der Richter aber war nicht
mehr da. Er ließ sich in England interviewen, wohin er geflohen war: Nun,
wo der Report veröffentlicht war, sagte er, gab es in seinem Land keinen
Platz mehr für ihn.
Der Report war ein voller Erfolg. Die offiziellen Beobachter Europas

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