Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

16


Wie schön er war, ihr Sohn. Selbst sie hatte vergessen, wie schön er war.
Ernani trat aus seinem Büro des Bahnhofsvorstehers und ging, gefolgt
von Otello, Attilio entgegen, der aus dem Zug stieg. Viola hielt einen
köstlichen Moment lang inne und sah ihn sich aus der Ferne an, schob die
Freude noch kurz auf, ihn in die Arme zu schließen. Sie sah auf den Kalender
in der Halle, denn diesen Tag musste man in Erinnerung behalten: den



  1. Januar 1940. Vier Jahre und zwei Monate waren vergangen, seit sie ihrem
    jüngeren Sohn das letzte Mal ins Gesicht gesehen hatte.
    In dieser Zeit hatte sie das Titelbild vom Resto del Carlino in einer Dose
    aufbewahrt, auf dem auch Attilio zu sehen war. Jeden Tag, wenn sie allein
    war, hatte sie es aus der Blechdose mit der Kaffeemühle darauf genommen,
    genau wie die Briefe und Postkarten, die Attilio ihr im Laufe der Jahre aus
    Abessinien geschickt hatte. Doch nun, da sie ihn wahrhaftig hier am Bahnhof
    von Lugo stehen sah, empfand sie ein verwundertes Staunen. Das fröhliche
    Ausholen der langen Beine, die hellen Augen, die geschmeidigen Schultern
    des jungen Mannes. Wie schön ihr Sohn war. Wie schön er war. Wie sehr er
    ihr ähnelte.
    »Du darfst nie mehr so lange von mir weg sein«, sagte sie, als sie sein
    Gesicht liebkoste. Der Erstgeborene Otello, der Italien nie verlassen hatte und
    immer bei seiner Mutter geblieben war, wandte den Blick ab.
    Viola hatte sein Lieblingsessen gekocht, Leber nach venezianischer Art.
    Außerdem Cappellacci mit Kürbis und dazu ein Ragù aus fünf Fleischsorten,
    einen Auflauf mit Rippchen und Kartoffeln, zum Nachtisch Zuppa inglese.
    Zwei Tage lang hatte sie gekocht. Attilio gestikulierte, aß, ließ sich immer
    wieder den Teller nachfüllen, erzählte von den Negern, die so schlecht gar
    nicht seien, wenn man sie zu nehmen wisse. Er erwähnte weder Tod noch
    Liebe. Leichen kamen in seinen Geschichten nicht vor, auch keine Prozesse
    wegen unerlaubten Zusammenlebens in wilder Ehe mit einer schwarzen Frau,
    dem sogenannten »Madamato«. Es gab kein Giftgas und auch nicht die
    erschreckende Sanftheit von Abebas Körper. Die Spedition nach Godscham
    tauchte als etwas unbequemer Sonntagsausflug auf, mit lustigen Anekdoten

Free download pdf