Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

über das ungenießbare Essen und Flöhe im Schlaf. Flammenwerfer gab es
selbstverständlich keine.
Attilio und Viola unterhielten sich leise mit zusammengesteckten Köpfen,
als wären sie allein. Ernani verfolgte das Gespräch zwischen Frau und Sohn
wie ein Theaterstück: Er genoss es in dem Bewusstsein, selbst nicht auftreten
zu müssen. Otello sah kaum von seinem Teller auf. Leber mit Zwiebeln hatte
er noch nie gemocht.
Am Abend ließ die Rückkehr des gemeinsamen Sohnes die unsichtbare
Wand aus Gleichgültigkeit, die sich seit Jahren durch das gemeinsame Bett
von Ernani und Viola zog, ein wenig dünner erscheinen. Wie lange war sie
nicht mehr so glücklich gewesen. Sie stellte sich Attilios Atem im
Nebenzimmer vor. Sie war nicht traurig, dass er nur wenige Tage bleiben
würde. Er sollte für die Übersee-Schau in Neapel arbeiten, eine Ausstellung,
die dem italienischen Volk die Großartigkeit des faschistischen Wirkens in
den Kolonien vor Augen führen sollte, die Gewaltigkeit des imperialen Plans,
zu dessen Verwirklichung er als Freiwilliger triumphal beigetragen hatte.
Viola lächelte in die Dunkelheit des Zimmers hinein, das erfüllt war vom
schweren Atem ihres Mannes. Wie gut sie vor ein paar Monaten daran getan
hatte, die beiden Briefe zu schreiben.
›Verehrtester Professore Lidio Cipriani‹, eröffnete der erste, ›ich bin die
Mutter von Scharführer Profeti Attilio. Mein Sohn hatte die Ehre, in der von
Euch geleiteten bedeutsamen Wissenschaftsmission in Afrika mitzuarbeiten.
Ich weiß, wie sehr Ihr in dieser Zeit den Fleiß meines Sohnes wertgeschätzt
habt, seinen Respekt vor der Hierarchie, seine reine faschistische Treue, die
er tapfer mit dem Schwarzhemd trägt. Nun wende ich mich ehrerbietigst an
Euch, um Euch zu bitten, in Euch zu gehen, ob Ihr ihn zu Eurem Assistenten
berufen könnt, nun wo Ihr nach Italien zurückgekehrt seid. Ich bin mir sicher,
dass sein jugendlicher Enthusiasmus, seine humanistische Bildung für
Euch ... ‹ etc. etc.
Das zweite Schreiben war an das Kolonialministerium gerichtet und
wesentlich kürzer. ›Bertoldi Romano, Assistent von Professor Lidio Cipriani,
ist von jüdischer Abstammung mütterlicherseits.‹ Hier hatte Viola nicht
unterschrieben.
Sie lächelte in sich hinein und versank dann in einem Halbschlaf, in dem
sie jede Berührung mit ihrem Mann tunlichst vermied. Nie hätte sie Attilio

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