Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

gesagt, dass sie diese Briefe verfasst hatte. Ihr genügte das Bewusstsein, ihre
Pflicht getan zu haben: als Mutter, als Faschistin und als Italienerin.


Attilio war nicht der Einzige, der aus Abessinien zurückkam. Vier Jahre nach
der Ausrufung des Reiches gab es viele, die von den Kolonien enttäuscht
waren. Nach Hause zurückgekehrt sprachen sie wenig, sehr wenig. Wer an
den schlimmsten Gewalttaten mitgewirkt hatte, behielt seine Erinnerung für
sich, namenlos wie im Fundbüro abgegebene Gepäckstücke. Wer Zeuge
gewesen war, erzählte nichts, um nicht beschuldigt zu werden. Die anderen,
die meisten, die sich nicht aus ideologischen Gründen nach Afrika
eingeschifft hatten, sondern um des Überlebens willen, verspürten die Scham
der gescheiterten Emigranten, die genauso hungrig nach Hause kamen, wie
sie gegangen waren. Und alle schwiegen. Jedes dieser kleinen Rinnsale aus
Schweigen floss in einen großen Strom des offiziellen Verschweigens. Der
seinerseits das Meer der Propaganda über Ostafrika speiste.
Einer jedoch kehrte um einiges reicher nach Italien zurück, als er
aufgebrochen war, nämlich Feldmarschall Rodolfo Graziani, den als
Vizekönig der Großherzog Amedeo d’Aosta abgelöst hatte. Er hatte sogar
einen Adelstitel dazugewonnen: Wenige Tage nach seiner Ankunft in Neapel
berief ihn der König in den Quirinalspalast und ernannte ihn zum Träger des
Großkreuzes des Militärordens von Savoyen sowie zum Markgraf von
Neghelli. Im Palazzo Madama wurde seine Büste enthüllt, und er bekam die
Ehrenbürgerschaft Roms. Doch längst war er nicht mehr der allseits
bewunderte Kriegsführer und geliebte Held der Jugend. Beim Ehrenmarsch
nach der Zeremonie versammelte die Polizei nur mit Mühe zwei schmale
Zuschauerreihen am Straßenrand. Niemand sprach offen darüber, doch ein
Ruch haftete ihm an, mehr und mehr, untrennbar wie der Schatten, den sein
schlanker Körper auf den Boden warf. Es war nicht klar, wann er entstanden
war. Man flüsterte etwas von bizarren Fotos, die er Mussolini geschickt hatte,
Großaufnahmen von sehr privaten anatomischen Details. Die Phantasie des
Volkes über diese nie gesehenen Fotos, die Gerüchte und schmutzigen Witze
fielen auf das immer fruchtbarere Stück Erde, das sich aus der hämmernden
Propaganda der Wochenschauen im Kino und dem Gemurmel
zusammensetzte, das die Rückkehrer in der Nacht ihren Frauen ins Ohr
flüsterten, nämlich dass in Abessinien schlimme Dinge geschahen. Sehr
schlimme Dinge.

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