Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

mit ihr, mit der Tochter, mit beiden zusammen und auch allein –, bestimmt
zehnmal. Nicht Ines erkannte der Marschall in der Prinzessin mit der weißen
Haut wieder, sondern die eigene schneeweiße Uniform, bevor sie von seinem
Blut getränkt wurde. Und das grausige Ende der eifersüchtigen Hexe, die
vergeblich versucht hatte, sie umzubringen, bereitete ihm Freude wie das
seiner eigenen Feinde.
Schneewittchen war er selbst.


»Mach dir keine Sorgen, ich komme zurück. Ich komme immer zurück«,
hatte Attila ihr bei seiner Abreise gesagt. Doch Abeba hatte ihn nicht mehr
wiedergesehen und nach neun Monaten ein Kind auf die Welt gebracht. Als
sie es zum ersten Mal auf den Arm nahm, blickte das Neugeborene ihr direkt
und ohne Scheu in die Augen. Es war der Blick von Bekele, und sie dachte:
›Wo du wohl gerade bist, mein Bruder, wie es dir wohl geht?‹ Ob der Sohn
ihrer Eltern wohl lebte – ob man überhaupt in der Gehenna von Nokra
überleben konnte –, oder der Tod ihn von seinen Qualen erlöst hatte. Abeba
ehrte ihren Bruder, indem sie dem Baby einen Namen gab, den es als Vorbild
tragen würde. Sie nannte es Ietmgeta –›ich bin edel überall‹.
Ietmgeta war sehr hellhäutig, als flösse in seinen Adern ausschließlich
talian-Blut. Abeba hoffte. Wie viel besser wäre sein Leben, wenn er als weiß
gelten würde! Doch nach wenigen Tagen begann sich die Haut hinter seinen
Öhrchen, zart und rund wie Hibiskusblüten, dunkler zu färben. Dann auf der
Stirn, den Beinen, dem Rücken. Nach wenigen Wochen hatte das Baby am
ganzen Leib die Farbe von der Erde nach einem Regen. Nur die Hand- und
Fußflächen waren noch so rosa wie kurz nach der Geburt.
Und doch war Abeba überzeugt, dass Attila auf seinen Sohn stolz
gewesen wäre. Er hätte ihn auf den Arm genommen und ihm seinen
Vaternamen gegeben, damit er vollständig hieße: Ietmgeta Attilaprofeti. Ihr
hätte er ein silbernes Armband geschenkt, wie es die neuen Väter aus Glück
tun. Sie musste ihm nur mitteilen, dass er geboren war.


Richter Carnaroli trank wie jeden Morgen, bevor er das Gericht betrat, einen
Caffé Macchiato in dem Cafè neben dem neuen Gebäude der Hauptpost.
Wären dort nicht die unzähligen Abessinier gewesen, die Säcke auf den
Köpfen trugen, bunte Kleider über den dünnen Leibern, hätte dies genauso
gut eine Straße in den vom Faschismus gegründeten Städten in Italien sein

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