Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Rechnen: gut. Zeichnen und Schönschrift: gut. Geschichte und faschistische
Kultur: sehr gut. Hygiene und Körperpflege: sehr gut. Bestätigt wird der
Besuch von Klasse 4 der Grundschule von Carnaroli, Clara, Tochter von
Ascanio und N. N.
»Deine Mamma ist gestorben, Clara«, hatten ihr die Verwandten in
Italien gesagt, als sie sie bei sich aufnahmen. Ihm hatte das nicht gepasst, und
er wäre vorher lieber gefragt worden. Doch nun musste er zugeben: Sie
hatten Recht. Es gab keinen Grund, in ihr die Sehnsucht nach einer Mutter zu
wecken, die sie nie wiedersehen würde. Im Gegenteil, es wäre grausam. Ob
sie lebte oder tot war, was interessierte das den italienischen Staat? Gar nicht.
Die Mütter mit dem falschen Blut haben keinen Namen, sie sind tot, obwohl
sie leben. Seiner Tochter hatte er durch die Anerkennung, nur wenige Jahre
bevor es verboten wurde, die italienische Staatsangehörigkeit gesichert. N. N.
hatte er nicht retten können vor den Abgründen eines Lebens als Native.
Er wischte sich eine Spur Kaffee von den Lippen und sah auf. Da waren
sie, all jene, die jetzt per Gesetz rein nach äußerem Erscheinungsbild einer
Rasse angehörten und nicht mehr als Individuen galten. Sie schoben Karren,
verkauften Erdnüsse, schleppten sich krumm mit ausgestreckter Hand voran,
gingen hoch aufgerichtet gefolgt von einem Diener. So unterschiedlich von
Gemüt, Lebenslauf und Position, wurden sie nun alle in eine Schublade
gepresst: Eingeborene. Neger. Wer weiß, wie viele von ihnen überhaupt
wussten, was ihnen damit genommen wurde.
Aber ein Zurück gab es ohnehin nicht.
Jetzt wurde seine Tochter nicht mehr Schokolädchen oder Lakritzbonbon
genannt. Nur noch Clara. Clara Carnaroli. Man behandelte sie, als flösse in
ihren Venen nur italienisches Blut. Jenes von N. N. war getilgt: aus den
Papieren, aus den Zeugnissen, aus dem Gedächtnis. Nur nicht aus den Zellen
ihrer Haut, und das war der Grund, warum er bei der Übergabe seinen
Verwandten in Italien eine einzige Bitte mitgegeben hatte: »Sie darf sich
niemals, aus keinem Grund, ungeschützt der Sonne aussetzen.«
Manchmal erinnerte er sich kaum mehr an das Gesicht des Mädchens.
Dann sah er sich die Fotos an, die sie schickten (nur selten und wenige, er
wollte es selbst nicht anders, denn es schmerzte ihn jedesmal). Manchmal
glaubte er N. N. zu spüren, obwohl er sie vor so vielen Jahren zum letzten
Mal angefasst hatte, das Wiegen einer Hüfte, die Berührung einer

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