Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Handfläche, ihren Kräuterduft. Ihr Gesicht aber hatte er vergessen. Für immer
verloren, so wie die vielen gemeinsamen Jahre.
Es war noch in Asmara gewesen, bevor sie ihn nach Addis Abeba
geschickt hatten, damit er dort das neue imperiale Recht installierte, als er ihr
mitgeteilt hatte, dass er gedachte, ihre Tochter nach Italien zu schicken.
»Tu, was du für richtig hältst«, hatte sie erwidert.
Nicht: »Gib mir noch etwas Zeit mit meiner Tochter.« Und auch nicht:
»Lass mich mit ihr gehen.« Als Mutter wünschte sie sich das Beste für Clara,
nicht für sich selbst. Und auch sie begriff, dass sich alles verändert hatte.
Die Menschen hatten sich verändert. Doch viel mehr noch und
erschreckender aus der Sicht des Juristen hatten sich die Worte gewandelt.
Wie die, die er jetzt in der Zeitschrift las.


Die faschistische Gesetzgebung zielt darauf ab, die Rassenmischung
mit aller Entschlossenheit zu verhindern. Bedarfsweise werden bei
Umgehung der Vorschriften harte Strafmaßnahmen angewandt, die
das höhere Interesse der Gemeinschaft in Breite rechtfertigen.
Wenngleich uns die Schwere des Vorgehens bewusst ist, müssen
wie oben erläutert in Einzelfällen Mischlingsgeburten beseitigt
werden.

›Beseitigt.‹ Auf Menschen angewandt ein unheilvolles Wort.
Im Vorjahr war er zu einem Symposium zum Stand des Kolonialismus
nach Neapel eingeladen worden. Eine Pflichteinladung für einen berühmten
Juristen wie ihn, der seit Jahren mit der Systematisierung des Kolonialrechts
befasst war – zwischen italienischer Gesetzgebung, eritreischen Kodizes, dem
Gewohnheitsrecht, dem amharischen Fetha Negest und der Scharia, es war
schier zum Verrücktwerden. Er hatte sich mit einem Übermaß an Arbeit
entschuldigt, was im Übrigen auch zutraf. Doch dann hatte man ihm die
Unterlagen zugeschickt. Manche Einlassungen hatte er mehrmals lesen
müssen, weil er sie kaum glauben konnte. Wie zum Beispiel den Vorschlag,
der indigenen Hebamme ›bestimmte Überwachungsfunktionen über die
Rassenreinheit‹ zu übertragen: ›Sachgerecht unterrichtet und eingewiesen,
dringt sie bis in das Strohhaus vor, was dem weißen Fachpersonal verwehrt
ist, und kann so die Rassenmischung weise überwachen.‹

Free download pdf