Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

›Weise überwachen?‹ War das ein Synonym für beseitigen?
Wo lagen die Grenzen des Niedergangs, fragte sich Carnaroli, den dieser
Wahnsinn verursacht hatte? Zum Glück waren sie im modernen zwanzigsten
Jahrhundert, niemand konnte ernsthaft daran denken, ganze Gruppen von
Menschen zu beseitigen. Doch dann führten plötzlich alle die Rede vom
»römischen Recht« im Mund, ohne zu merken, dass diese Rassengesetze die
Basis aus zweitausendjähriger Rechtskultur unterminierten. Oder besser
gesagt aus zweitausend Jahren Zivilisation.
Warum arbeitete er immer noch an ihren Gerichten? Warum hatte er sich
nicht längst selbständig gemacht? Das fragte er sich beinahe täglich. Dabei
kannte er die Antwort: Sich jetzt abzuwenden wäre pure Feigheit gewesen. In
Momenten wie diesen, wenn die Justiz von Willkür und Anmaßung bedroht
wurde, musste man ihr mit noch größerer Hingabe dienen.
Das Gesetz über die Rassenmischung wurde nicht rückwirkend
angewandt, zu gütig von ihnen. ›Aus Menschlichkeit angesichts der in der
Vergangenheit begangenen Fehler‹, hieß es tatsächlich in Artikel 9, ›findet
das Gesetz keine Anwendung auf Kinder, die aus legal geschlossenen Ehen
vor Inkrafttreten der Rassengesetze hervorgegangen sind.‹ Er hasste sie für
diesen Artikel, der ihn zwang, sich ein nicht eingetretenes Leben
vorzustellen. Er hätte N.N. heiraten können – vorher. Er hätte Lakritzbonbon
jeden Abend auf den Arm nehmen können, sich an ihren Atemzügen
berauschen können, die beim Einschlafen immer weicher wurden. Gewiss,
auf eine Schule für Weiße hätte sie nicht gehen können. Und er hätte auf
seine Karriere verzichten müssen, denn noch nie hatte es einen bedeutenden
Juristen gegeben, der mit einer Schwarzen verheiratet war, aber ...
Nein, so wäre es nicht gekommen. Und das wusste er.
Immer wenn Richter Carnaroli in seinen Überlegungen diesen Punkt
erreichte, sagte er sich, dass es für alle besser war. Vielleicht würde die
Erinnerung an N. N. eines Tages nicht mehr diese Scham in ihm hervorrufen.
Manchmal glaubte er sie zu sehen, wie sie die Straße entlangging, an der
Hand die hellere Hand der gemeinsamen Tochter. Er erahnte ein
Frauengesicht unter einem weißen Schleier, eine Gestalt, die ihm vertraut
vorkam. Natürlich war sie es nie, sie war ja in Asmara geblieben. Doch die
Enttäuschung ließ ihn jedes Mal frösteln. Es gab so viele Frauen mit
hellhäutigeren Kindern. Sie waren immer allein, ohne einen Mann in der
Nähe. Man erkannte sie sofort, die Verlassenen. Die Zöpfe auf dem Kopf

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