Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

waren aufgelöst, weil sie kein Geld für die Friseurin hatten und keine anderen
Frauen, um sich gegenseitig zu helfen. Da war zum Beispiel eine mit einer
gelben Tüte in der Hand. Auf dem Rücken trug sie ein viel helleres Kind, in
ein sauberes, aber keinesfalls neues Tuch gewickelt. Sie war schön, wenn
auch älter als andere, vielleicht zwanzig Jahre alt. Der Richter hatte das
Gefühl, sie irgendwoher zu kennen, konnte sich aber nicht erinnern. Von
Nahem dann erkannte er sie. Es war die Madama von diesem Schwarzhemd,
dem Scharführer, den er verurteilt hatte. Was wohl aus ihm geworden war?
Wahrscheinlich nach Italien zurückgekehrt, wie so viele andere, die
enttäuscht waren von dem Gaukelbild der Kolonien. Als er diese Frau in den
Zeugenstand gerufen hatte, war er beeindruckt. Sie hatte respektvoll, aber
nicht eingeschüchtert geantwortet, obwohl sie von unten zu dem Richterpult
aufschauen musste, an dem er saß. Ihr Italienisch war gut, einfach und klug,
und sie bewegte grazil ihre Finger. In einer anderen Welt, in einer anderen
Zeit hätte man sich leicht vorstellen können, sich in eine solche Frau zu
verlieben. Als Mann sein Leben an ihrer Seite verbringen zu wollen. Doch
nun war auch sie allein, wie alle anderen. Wie N.N., die nicht einmal mehr
ihre Tochter bei sich hatte.
Abeba hatte die Augen des Richters auf sich gespürt. Als sie auf dem
Bürgersteig an ihm vorbeiging, erwiderte sie einen Moment lang seinen
Blick.
›Ob sie mich erkannt hat?‹, fragte sich Carnaroli.
›Das ist dieser talian, der entscheidet‹, dachte sie, ›aber sein Blick sagt,
dass er etwas verloren hat.‹
Dann betrat sie die Post und verschwand aus seinem Blickfeld.


Der gelbe Briefumschlag in Abebas Hand hatte wochenlange Bittgänge
erfordert. Bevor sie einen Schreiber um Hilfe bat, musste sie herausfinden,
wohin sie ihn schicken sollte. Sie hatte von der Welt lediglich ihr Dorf und
die Hauptstadt gesehen, doch ihr war klar, nur »Italien« auf den Umschlag zu
schreiben, wie viele es taten, würde den Brief nicht ans Ziel führen. Tagelang
stand Abeba vor dem Eingang der Casa del Fascio, dem Büro der
Faschistischen Partei, vor den Kasernen, vor der Vertretung des
Kolonialministeriums. Sie suchte jemanden, der mit ihr die Adresse des
Vaters von dem Kind auf ihrem Rücken ausfindig machen würde. Niemand
erwiderte ihren Gruß, einige warfen ihr ein »Hau ab« hin, die meisten gingen

Free download pdf