Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

mit ihrem Blick über sie hinweg wie über eine Staubwolke. Nach Tagen auf
dem Bürgersteig empfand eine Frau, die vor dem Krankenhaus Bananen und
Zitronen verkaufte, Mitleid mit ihr. »Die Zuneigung des Fremden ist ein
Strohfeuer«, sagte sie zu ihr. »Vergiss ihn und denk an deinen Sohn.« Doch
Abebas Großmutter hatte sie gelehrt, nicht auf die zu hören, die keine
Ahnung haben.
Nach vierjähriger Besatzung war fast die ganze indigene Bevölkerung
von Addis Abeba an den Stadtrand gedrängt worden. Separate Zugangswege
führten zu den Orten, die sowohl von den Besatzern als auch den Besetzten
benutzt werden mussten – Märkte, Behörden, Kultstätten. Öffentlicher
Nahverkehr, Ämter und Schulen waren zweigeteilt. Auch am Stadtplan sollte
die Hierarchie der Rassen abzulesen sein. Schwarze waren demnach nur noch
als Bedienstete der Weißen vorgesehen. Jeder weitere Kontakt zwischen den
beiden Gruppen war ungern gesehen, wenn nicht verboten.
Die kolonialen Stadtplaner wollten klare Linien zwischen die Viertel der
Eingeborenen und die der neuen Herren ziehen. Im Entwurf für den
Regierungspalast waren zwei Aufgänge geplant, eine Treppe für die weißen
Kolonialherren, die andere für die Abessinier, getrennt und füreinander nicht
sichtbar. Sie hatten sich einen dichten, möglichst uneinsehbaren
Pflanzenzaun vorgestellt, der nicht nur aus den allgegenwärtigen
Eukalyptusbäumen bestehen sollte, sondern auch aus Pinien und anderen
mediterranen Gewächsen – Rosmarin, Ginster, Matrixsträucher, Imortellen.
Ihre Zweige und auch ihre Düfte sollten mit Hilfe des nicht fassbaren, aber
ursprünglichsten aller Sinne, des Geruchssinns, den neuen imperialen Weg
bezeugen, der das Mare Nostrum nun bis an das Horn von Afrika geführt
hatte.
Doch auch das botanische Kolonialisierungsprojekt scheiterte indes wie
alle anderen an der staubigen Realität. Viel zu hohe Kosten angesichts der
beschränkten Mittel; Kompetenzgerangel zwischen den zuständigen Stellen;
Faulheit, wenn nicht vorsätzliche Behinderung seitens der Verwaltung, die
für die Umsetzung zuständig war; allgemeine Desorganisation. Also überließ
man den italienischen Weg der Rassentrennung dem lieben Gott. In diesem
speziellen Fall den saisonalen Wasserfluten, die von den Hügeln rund um
Addis Abeba herabströmten. Ihre im Sommer ausgetrockneten, nach Aas
stinkenden Flussbetten verwandelten sich zur Regenzeit in reißende, trübe
Ströme, die Dreck und Abwasser mitnahmen und in denen nicht selten

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