Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Er betrachtete die aufrechte Frau mit der hohen Stirn und dem starken
Hohlkreuz wegen des Kindes auf ihrem Rücken. Attilio hatte wahrscheinlich
nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst. Als er sich vor seiner Abreise
nach Italien von ihm verabschiedet hatte, war jedenfalls kein Wort darüber
gefallen. Sie hatten ihre Adressen getauscht, wie zwischen Ex-Kameraden
üblich, und einander versprochen, sich Weihnachten zu schreiben. Nicht zum
ersten Mal dachte Carbone, dass dieser Profeti Attilio, genannt Attila, die
vergangenen sinnlosen Jahre von erhabener Position herab beobachtet hatte
wie ein Spatz auf dem höchsten Punkt des Misthaufens.
Es war Carbone, der sich Abebas Brief an Attilio Profeti diktieren ließ
und ihr seine Adresse gab. So hielt er sein Versprechen, mit der frohen
Botschaft einer Geburt von sich hören zu lassen – nur dass es sich bei dem
Neugeborenen nicht um das Jesuskind handelte.
Es vergingen Tage und Wochen. Es vergingen Monate.
Abeba erhielt keine Antwort.
Carbone machte im hinteren Raum seiner Werkstatt ein Foto von ihr, im
Stehen vor einem weißen Laken. Sie hatte sich von der Frau mit dem blinden
Auge die Zöpfe neu flechten lassen und den Schal umgelegt, der ihr lange
zuvor geschenkt worden war. Kurz vor dem Blitzlicht hob sie den
Erstgeborenen von Attila Profeti wie eine Trophäe in die Kamera.
Das Porträt wurde in einen zweiten gelben Umschlag gesteckt und
ebenfalls mit »Piazza Stazione Nr. 1 – Lugo in Romagna – Italien« adressiert.
Auch dieses Mal antwortete Attilio nicht.


Der Anthropologe Lidio Cipriani war mit seinem neuen Assistenten
zufrieden. Schon zwei Jahre zuvor, als Attilio Profeti in Äthiopien die
bewaffnete Eskorte seiner anthropometrischen Forschungsexpedition
anführte, hatte der junge Mann ihn durch sein harmonisches Zusammenspiel
von wachem Verstand und körperlicher Perfektion tief beeindruckt. Profeti
war das lebendige Beispiel, man könnte fast sagen die Inkarnation des
wissenschaftlichen Rassismus, dem Cipriani jahrelange Feldforschung
gewidmet hatte, zusammengefasst in dem von ihm unterschriebenen
Rassenmanifest, und anhand dessen er bewiesen hatte, wie die somatische
Hierarchie der Völker mit ihrer psychischen Entwicklung einhergeht.
Schönheit war ein Erkennungsmerkmal der überlegenen Rasse, auch aus
spiritueller Sicht, wie die griechisch-römischen Bildhauer sie festgehalten

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