Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

wurden. Die Stuben bestanden aus ordentlichen Reihen von Betten in hellem
Holz, die Decken wurden jeden Monat gewaschen, die Laken einmal pro
Woche. Von allem schien es reichlich zu geben, wie keiner von ihnen es je
erlebt hate, auch nicht in Italien zu Friedenszeiten. Als sie die Wärter um
Kalk baten, um sich ein Fußballfeld aufzuzeichnen, bekamen sie einen Sack
Mehl. Natürlich, es herrschte Langeweile, die Heimat war fern, die
Ungewissheit über den Kriegsausgang groß, und sie konnten sich nicht frei
bewegen. Es gab die Monotonie der Hochebene und den lästigen,
unaufhörlichen Wind. Die derechos, jähe und heftige Böen, ließen die Ziegel
von den Dächern regnen, und die Aufseher drohten ihnen im Spaß: Wenn ihr
dagos euch schon davor fürchtet, dann wird euch der Sandsturm erst richtige
Kopfschmerzen bereiten. Doch die Wahrheit war, auch wenn Otello es sich
ungern eingestand: Das Gefangenenlager von Hereford war nicht der
schlechteste Ort in diesen gnadenlosen Zeiten.
Eines Tages im September 1943 bebte die untergehende Sonne wie
immer im roten Staub, doch der Horizont hatte eine Dichtigkeit, die anders
war als sonst – kompakter, beinahe fest. Otello achtete nicht darauf. Ihm war
nicht aufgefallen, dass die Kanadagänse heute fehlten, die Falken und
Elstern, die um diese Uhrzeit normalerweise über seinem Kopf kreisten. Eine
merkwürdige Stille herrschte um den Stacheldraht, der das Lager einzäunte,
durchbrochen nur von einer Art Brummen, das vom fernsten unsichtbaren
Ende der Wiesen herzurühren schien. Doch Otello sah und hörte nichts. Das
Blatt Papier vor seiner Nase forderte seine ganze Aufmerksamkeit.
Er hatte es mit eigenen Augen lesen wollen. Obwohl er nicht der
Ranghöchste in seiner Baracke war, hatte er so eindringlich darum gebeten,
dass der Kommandant selbst es ihm überlassen hatte. Nun zitterten seine
Hände stärker als damals, als er an der Front den Panzer durch die verminten
Felder gelenkt hatte.
Die Depesche war an sie persönlich adressiert, die von den
angloamerikanischen Kräften internierten italienischen Kriegsgefangenen,
und sie kam vom Oberkommando des Königlichen italienischen Heeres. Der
ranghöhere Offizier, jener Fliegerleutnant, der es ihm anschließend gegeben
hatte, hatte es in der großen Mensabaracke vor allen laut vorgelesen. Otello
konnte es nicht glauben. Das Hören allein genügte ihm nicht. Er musste es in
die Hand nehmen, anfassen, dieses Blatt Papier, ganz oben die grün-weiß-

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