Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Ihm wurde klar, dass er sehr wenig von dem wusste, was vor sich ging,
und noch viel weniger davon verstand. Doch bei einer Sache, einer einzigen,
gab es nicht den geringsten Zweifel. Er konnte vielleicht kein Soldat mehr
sein, er konnte auch kein Faschist mehr sein, doch beim besten Willen konnte
er niemals aufhören, Italiener zu sein.
»Verdammt noch eins, was machst du hier draußen, Profeti?«
Oberleutnant De Rossi, mit dem er seit ihrer Ankunft in Bengasi vor drei
Jahren jeden Augenblick verbracht hatte, zerrte an seinem Arm und brüllte
ihm ins Ohr.
Otello sah auf. Nun erst merkte er, dass es nicht seine Finger waren, die
das Blatt Papier erzittern ließen. Alles um ihn herum – Gras, die zum
Trocknen aus den Barackenfenstern gehängten Laken, das Laub der
spärlichen Vegetation – schien von einer unsichtbaren, aber starken Macht
ergriffen. Von etwas viel Soliderem als nur Wind, und sei er noch so
stürmisch. Er sah zum Horizont. Die untergehende Sonne war von einer
riesigen Wolke aus Sand, Staub und Dreck verschluckt. Sie raste über die
flache Ebene heran wie ein lebendiges Wesen, in Schlangenbewegungen,
doch mit der Geschwindigkeit eines Raubtieres. Und sie war sehr hungrig.
Häuser, Laternenpfähle, Straßen, Büsche – sie verschluckte die gesamte
Landschaft und machte aus ihr ein erdfarbenes Nichts. Otello stand wie
gelähmt vor dieser kolossalen voranschreitenden Zerstörung. Bis sie schon
ganz nah war, fast den Stacheldraht erreicht hatte.
»Scheiße, beweg dich!«, schrie De Rossi und zerrte wieder an seinem
Arm.
Da erst fing Otello an zu rennen, quer über das Terrain auf die nächste
Baracke zu. Einige Augenblicke nachdem sie die Holztür hinter sich
zugeworfen hatten, raste das Ungeheuer aus Staub, Steinen und Dreck mit
einem Brüllen über ihre Köpfe hinweg. Die Baracke wurde wie ein Fähnchen
geschüttelt, eine grausige rote Dunkelheit erfüllte ihr Inneres.
Otello lag mit seinen Kameraden zusammengekauert auf dem Boden und
dachte an die zweieinhalb Kriegsjahre in der Wüste zurück, in denen er gegen
das perfide Albion gekämpft und lediglich seine Pflicht als Soldat erfüllt
hatte, nicht mehr und nicht weniger, als man ihm aufgetragen hatte: fürs
Vaterland zu kämpfen. Und er war geschlagen worden, obwohl er den
Befehlen gehorcht hatte, auch den sinnlosen (und die hatte es weiß Gott
gegeben!), er war nicht vor dem Feind geflohen, trotz einer Ausrüstung und

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