Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Ausbildung, die einen vor Lachen sterben ließen, oder einfach so sterben
ließen; und nach zweieinhalb Jahren Sand, Blut und verschimmeltem Brot
hatte er zuerst seinen Zug zerstört, damit er dem Feind nicht in die Hände
fiel, und danach erst die weiße Fahne gehisst, und hatte also wirklich alles,
alles, alles getan, was ein braver Soldat tun musste.
Diese Botschaft ohne Sinn löschte mit wenigen Zeilen alles aus, was er
und seine Kameraden durchgemacht hatten, jene, die noch lebten, und
schlimmer noch jene, die tot waren.
Der Reserveleutnant des Pionierkorps Profeti Otello begriff, dass er vor
einem Sandsturm fliehen konnte, nicht jedoch vor seinem eigenen Gewissen.
Und er beschloss: Er würde nicht kooperieren.


Der Hunger im Italien des Krieges nahm zu, folglich lief es für Besitzer von
Ackerland immer besser. In Lugo in Romagna erzielte Gräfin Paolina
Baracca, Mutter von Francesco dem Himmelsass sowie Helden der Stadt,
beträchtliche Gewinne auf dem Schwarzmarkt. Als vorzügliche Vestalin des
Kultes um ihren Pilotensohn ging sie seit seinem Tod im Ersten Weltkrieg in
Trauer, so dass bei ihrer jüngst eingetretenen Witwenschaft kein
Kleiderwechsel vonnöten war. Paolina hatte in der Stadt ein gefaltetes
Sterbebildchen ihres verblichenen Mannes verteilen lassen. Graf Enrico
strahlte darauf seine bekannte Eleganz aus und festigte so selbst als
Verstorbener seinen Ruf als vornehmer Typ, den die Bürger immer in ihm
gesehen hatten. Paolina erlaubte ihrem Prinzgemahl allerdings nicht einmal
bei seiner eigenen Beerdigung, die Hauptrolle zu spielen. Die Zeilen der
Todesanzeige galten weniger ihrem Mann, sondern vielmehr dem Kult ihres
Sohnes.


In deinem großen Haus
voll der schrecklichen Gaben
von Ruhm und Tod
segne Gott auf immerdar
dein ehrenvolles Ergrauen
und sein junges Lächeln.

Einer dieser Totenzettel wurde an die Bahnhofsmauer geklebt. Wenn Viola
daran vorbeiging und die letzte Zeile las, musste sie immer an Attilio denken.

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