Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Wie fern war Rom! Doch wenigstens lebte ihr Sohn. Im Kolonialministerium
war er in Sicherheit, das sagte sie sich jedes Mal. Danach erst dachte sie auch
an Otello, den sie seit drei Jahren nicht gesehen hatte. Und verspürte
jedesmal eine geheime Scham für die ewige zweite Stelle, die ihr
Erstgeborener in ihren Gedanken einnahm.
Viola sprach mit ihrem Mann nie über den Krieg. Schweigend lasen sie
jeder für sich Otellos Postkarten von der nordafrikanischen Front. Jeder
behielt die stille Hoffnung für sich, er möge aus der Gefangenschaft
freikommen. Niemals vereinten sie ihr sehnsüchtiges Bangen, auch nicht zum
gegenseitigen Trost. Mit fast fünfzig Jahren sah Viola noch immer beinahe zu
gut aus, um die Gattin eines Bahnhofsvorstehers zu sein. Ernani war immer
noch in sie verliebt wie an dem Tag, als er sie kennengelernt hatte, doch auch
er richtete nicht mehr das Wort an sie. Angesichts zahlloser zerstörter
Brücken bricht auch der demütigste Pilger seine Reise ab.
Wenn er mit seiner Frau hätte reden können, hätte Ernani ihr erzählt, dass
er sie schon gesehen hatte, die geschundenen Körper der jungen, von der
Front heimkehrenden Italiener. Dass er ihren stechenden Geruch kannte und
den animalischen Schlaf der Rückkehrer beschützt hatte, indem er die Türen
der Militärwaggons verschloss. Er hatte schon einmal einen Weltkrieg erlebt.
Mehr als zwanzig Jahre danach war die Eisenbahn nun wieder das
Transportmittel der Schlachtfabrik, die sich lebende Körper einverleibte, um
sie dann tot oder verstümmelt wieder auszuspucken. Ein paar Jahre zuvor
waren sie in die russische Steppe zu Ruhm und Ehre aufgebrochen, mehr als
zweihundert Truppentransporte, für den Rückweg der Überlebenden hatten
siebzehn gereicht. Wieder einmal fuhr der Krieg über Ernani Profetis Gleise,
dieser alte widerwärtige Bekannte, dem er nie wieder hatte begegnen wollen.
Und stattdessen ließ er genau wie damals die Züge rollen. Doch nicht einmal
er, der Bahnhofsvorsteher in seinem zweiten Weltkrieg, hatte je Waggons
gesehen wie jene, die eines Tages im Oktober ’43 durch Lugo in Romagna
rollten.
Seit Tagen hing der Nebel dicht über der Landschaft, der er entstieg, fast
undurchsichtig. Dieselbe Sonne, die über einem Alpenpass als scharfer
Diamant funkelte, sog in der Poebene die Feuchtigkeit aus dem Boden wie
aus einem Putzlappen. Der Güterzug tauchte gegen Nachmittag aus dem alles
umhüllenden formlosen Grau auf. Begleitet von einer Abteilung der

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