Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

laufen können, forderte von sich selbst, endlich ein Urteil zu fällen, was
davon seine Schuld war – und was nicht. Und jedes Mal sah er wieder den
Fahrkartenverkäufer Rizzatello Beniamino vor sich, einfacher
Eisenbahnangestellter, der vor genau zwanzig Jahren unter den Schlägen der
Gummiknüppel gerufen hatte: »Nein, bitte nicht!«, während er, Ernani, ein
Telegramm diktierte. Von da an verschwammen die beiden Ereignisse,
Rizzatellos Ermordung durch machtberauschte Faschisten und dieser
Oktobertag 1943, für Ernani Profeti zu einem einzigen Erlebnis. Wie das
Alpha und das Omega seiner moralischen Flugbahn.
Er legte die Lippen auf den Schlitz und raunte: »Ich komme wieder, wenn
es dunkel ist.«
Von der folgenden Nacht behielt Ernani Bilder, Eindrücke, und
Bruchstücke in Erinnerung, die er für den Rest seines Lebens vergeblich
versuchte, in eine logische Erzählung zu bringen. Sie bildeten eine lose
Abfolge von verständlichen, aber doch sinnlosen Geschehnissen. Viola, die
in der Wohnung über dem Bahnhof die Fensterläden geschlossen hat wegen
der Verdunkelung, fragt ihn: »Was ist in dem Zug da?« Er, der antwortet:
»Verdurstende Menschen.« Sie steht ein paar Stunden nach der Sirene für die
Ausgangssperre aus dem Bett auf, kommt zu ihm in die Küche, wo er gerade
zwei große Flaschen mit Wasser füllt, und sagt zu ihm: »Das sind doch nur
Juden.« Er, der wortlos in den Nebel hinaustritt, der die Umgebung in seine
kompakte Schwärze hüllt und die Dinge noch besser verbirgt als eine Mauer.
Seine vorsichtigen Schritte bis hinter den Waggon, damit die deutschen
Soldaten mit den Maschinengewehren in der Hand ihn nicht hören. Das
Wasser, das er mit dem Löffel durch den Spalt gießt, zwischen unsichtbare
Lippen, von denen er nur das verzweifelte Saugen hört. Die Minuten,
vielleicht Stunden, wer weiß, die Angst ist verschwunden und auch die Zeit,
denn anders als zwanzig Jahre zuvor tut er endlich das, was gewiss sowohl
sein Großvater als auch sein anarchischer Vater getan hätten, genannt der
Toleriertnicht, dem jede Art von Unterdrückung zuwider war. Und er hatte
befürchtet, nicht einmal das kleinste bisschen Mut geerbt zu haben: den Durst
stillen, mit einem Löffelchen und dem nächsten, den Durst von Menschen,
denen er nie ins Gesicht sehen würde. Viola mit dem Mantel über dem
Nachthemd in Kordelschuhen, die auf den Bürgersteig des Bahnhofs tritt. Der
feste Lichtstrahl, der sie jäh durchbohrt, das »Halt!« einer Stimme, die nun
nicht mehr im Entferntesten nach Wäldern und Märchen klingt, sondern nach

Free download pdf