Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Stacheldraht. Die Frau, die er seit dreißig Jahren liebt, ohne wiedergeliebt zu
werden, die »Ernani!« schreit und über die Gleise läuft, dann unter dem
Knattern der Maschinengewehre zusammenbricht. Die Funken, die aus dem
Magazin spritzen und durch den Nebel stieben wie kleine ferne Sonnen.


Nach dem Waffenstillstand von ’43 wurden die Akten des Ministeriums für
Italienisch-Afrika in die Sozialrepublik nach Cremona geschickt. In Rom
verblieb nur ein Verbindungsbüro in dem alten Gebäude gegenüber dem
Quirinale. Hier erreichte Attilio Profeti das Telegramm seines Vaters Ernani.
Er weinte nicht. Er starrte nicht auf das Blatt, um es wieder und wieder zu
lesen. Stattdessen sah er auf, blickte durch das Fenster auf die Allee und blieb
so, in den Pupillen spiegelte sich das Herbstlicht, das durch das entfärbte
Laub der Platanen drang. Ein Passant überquerte eilends die Straße und
zwang eines der wenigen vorbeifahrenden Autos, mit kreischenden Bremsen
anzuhalten. Auf dem Flur ratterten die Rädchen eines Metallkarrens mit
Aktenordnern über den gesprenkelten Marmor, geschoben von einem
Bediensteten. Wie vierzig Jahre später, als ein anderes Schreiben mit der
Nachricht eines anderen Todes kam, saß Attilio reglos da bis zum Einbruch
der Dunkelheit.
»Du wirst niemals alt, nicht wahr?«, hatte er als Kind seine Mutter
gefragt.
»Nein. Niemals, mein Schatz«, hatte Viola ihm versichert.
Siehst du, mein Schatz? Ich habe Wort gehalten.


Zwischen Rom und Lugo in Romagna verlief im Jahr 1943 noch nicht die
Gotenstellung, die über ein Jahr lang Italien in zwei Hälften spalten sollte,
dennoch war es kein Vergnügen, sich von einem Ort der neugeborenen
Sozialrepublik Italien in einen anderen zu begeben: herausgerissene Gleise,
beschlagnahmte Züge, Autobusse ohne Benzin. Attilio hatte nie zu den
Wagemutigen gehört, er mochte den Ruhm, nicht die Gefahr. Doch niemand,
auch keine Besatzerarmee, konnte ihn daran hindern, dem Grab seiner Mutter
die letzte Ehre zu erweisen.
Drei Tage hatte er für die Reise von Rom nach Pieve Santo Stefano
gebraucht. Er hatte Strecken auf Lastwagen mit kaputter Federung
zurückgelegt, war staubbedeckt von Motorrädern gestiegen, mit den raren
Buslinien gefahren, die manche Städte noch verbanden. War viel gelaufen.

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