Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

die zur Verdunkelung heruntergelassenen Rollläden der Stallgeruch des
nahen Heuschobers. Der Wirt servierte einen Eintopf aus Nudeln und dicken
Bohnen. Attilio hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, und es
schmeckte ihm so gut wie nichts zuvor auf der Welt. Er war nicht der
Einzige, der die Suppe in sich hineinschaufelte. Neben ihm saß ein Mann in
seinem Alter, mit gewöhnlichen Gesichtszügen, der jedoch so wirkte, als
wüsste er, dass man auch ohne gutes Aussehen seinen Platz im Leben haben
konnte. Der Tonfall, mit dem er »Wunderbar, danke!« murmelte, als der Wirt
ihm eine zweite Portion brachte, stellte unmissverständlich klar, dass er eine
erhabene Höflichkeit pflegte, ohne Vertraulichkeit. Obwohl er sich vor dem
Hinsetzen den Staub von der Jacke gewischt hatte, trug dieser junge Mann
abgewetzte und unpassende Kleidung. Ein Seil hielt die viel zu weite Hose
um die Hüfte, aus den Hemdsärmeln schauten seine Handgelenke hervor wie
bei einem aufgeschossenen Halbwüchsigen. An dem Gegensatz zwischen den
zusammengestückelten Kleidern und seinem so gar nicht ordinären Verhalten
erkannte Attilio sofort, dass es sich um einen der vielen Offiziere handeln
musste, die nach dem Waffenstillstand von ihren Generälen verlassen worden
waren. Sie hatten in aller Eile die Uniform abgelegt, um nicht von den
Deutschen erschossen zu werden, und versuchten nun nach Hause zu
kommen. Zwischen einem Bissen und dem nächsten erzählte der Mann
Attilio, dass er zu Fuß aus Jugoslawien gekommen und auf dem Weg zu
einem der Familiengrundstücke im Umland von Viterbo war. Dort würde er
in sicherer Entfernung zur Hauptstadt das Ende des Krieges abwarten, in dem
es seit der Flucht des Königs keine Ehre mehr gab. Attilio hegte keine
Sympathie für ihn, wie gegenüber allen Männern, die seiner attraktiven
Männlichkeit keine Beachtung zu schenken schienen. Schon gar nicht für
einen, dessen Familie Land besaß und der auch noch ganz unbefangen
darüber sprach.
»Und was macht Ihr hier?«, fragte der Mann dann.
Bei der Frage überkam Attilio plötzlich eine bleischwere, unsagbare
Traurigkeit. Er senkte den Kopf und wischte hochkonzentriert mit einem
Stück Brot die letzten Reste Suppe aus der Schüssel und kaute es langsam,
bevor er erwiderte: »Ich muss jemanden treffen.«
»Es muss jemand Wichtiges sein, wenn Ihr in diesen Zeiten umherreist.«
»Ja, das war er. Ist es noch.«
Attilio schob den Stuhl zurück, stand auf und nickte ihm zu.

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