Alle ausser mir

»Wenn Ihr erlaubt. Morgen erwartet mich ein langer Marsch. Gute
Nacht.«
Er drehte sich um, und während er den Speiseraum verließ, füllten sich
seine Augen mit Tränen. Es waren die ersten und einzigen Tränen, die Attilio
Profeti für seine Mutter vergoss – oder für irgendjemanden sonst.
Niemand sah sie.
Einige Stunden später wurde Attilio von donnernden Schlägen geweckt.
Sofort hellwach lauschte er aus seinem Bett ohne Laken, nur mit einer groben
Decke zugedeckt, in die Dunkelheit hinein. Es klang nicht nach Schüssen,
sondern nach einem Fausthagel gegen die Haustür. Er hörte, wie der Wirt zur
Tür lief: »Ich komme!«, trockene Befehle wurden gebrüllt, schwere Stiefel
traten die Zimmertüren auf, und dann die schläfrigen, angstvollen Stimmen
der Übernachtungsgäste. Attilios Kammer lag am Ende des Flurs, daher
konnte er seine Schuhe anziehen und nach seinem Mantel greifen. Als die
Tür aufflog, erfüllte die Deckenlampe das Zimmer mit ihrem kalten Licht.
Attilio schirmte sich die Augen mit der Hand ab.
»Raus hier!«, brüllte einer der republikanischen Soldaten, und Attilio
fragte sich, wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte.
Als Attilios Pupillen genug erkennen konnten, sah er einen Gewehrlauf
auf sich gerichtet. Vorsichtshalber vermied er es aufzuschauen, bis er im Flur
stand. Zwischen den zusammengetriebenen Gästen fand sich auch der Mann,
mit dem er zu Abend gegessen hatte. Drei Faschisten hielten sie in Schach,
während der vierte, der auch ihn aus dem Zimmer gejagt hatte, ihm den
Rücken zukehrte und kontrollierte, dass niemand mehr versteckt war. Attilio
betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und fand seinen Eindruck der
Vertrautheit bestätigt: der Speck an den Hüften, der über den Gürtel quoll,
der breite blonde Nacken, auf dem die Fez-Quaste baumelte ... Doch bevor
er ihm ins Gesicht sehen konnte, wurden Attilio und die anderen mit
erhobenen Armen zum Ausgang gestoßen.
»Raus aus euren Löchern!«, brüllte der Scharführer und hielt eine kurze,
lautstarke Rede. Es sei an der Zeit, dass alle wehrtauglichen Männer für die
Sozialrepublik von Salò kämpften. Sonst ginge es ab nach Deutschland.
Die Männer wurden von den Frauen und Alten getrennt und nach draußen
gebracht. Dort stand ein Lastwagen mit brennenden Scheinwerfern. Attilio
war gewaltsam aus einem so tiefen und schwarzen Schlaf gerissen worden,
dass er überrascht war, am Horizont bereits ein erstes Dämmern zu sehen. In