Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

In den eigenen Briefen nach Hause sprach Attilio nie über die Natur seiner
Arbeit. Der Mutter schrieb er lediglich, dass er als Beamter im gehobenen
Dienst in der Kolonie bleiben würde. Geschah dies, um sie zu beruhigen, dass
er nicht kämpfte, oder als logische Selbstzensur aus der eigenen Rolle
heraus? Er hätte es nicht beantworten können. So wie er nicht hätte sagen
können, welche Wirkung diese Schreiben auf ihn hatten, auf die er seine
mächtigen Balken aus schwarzer Tinte verteilte. Nicht weil er Sorge hatte,
Ärger zu bekommen. Auch seiner Mutter hätte er es nicht sagen können. Er
hielt es einfach nicht für seine Aufgabe, sich eine Meinung zu den Dingen zu
bilden, die er zensierte. Er beschränkte sich darauf, Befehle auszuführen. Er
tat seine Pflicht, nicht mehr und nicht weniger.
Eines Morgens fand Attilio in einer Sendung ein Dutzend Fotos. Sie
waren von schlechter Qualität, vielleicht in einem Feldlabor entwickelt, wie
Carbone es mit sich herumgetragen hatte. Grobkörnig, voll mit Flecken von
schlecht gemischter Säure. Einige Negative waren überbelichtet, so dass die
Bilder nur undeutliche Umrisse zeigten, verlorene Zellhaufen in einer viel zu
hellen Welt.
Abgebildet waren tote Körper. Viele. Leichen auf dem nackten Boden.
Männer, Frauen, auch ein paar Kinder. In verschiedenen Haltungen, in
Gruppen, einzeln. Daneben Bäume und Gestrüpp unterschiedlicher Art und
Größe, aber stets ohne Laub, oder auch nur von Felsen umgeben. Sie hatten
Wunden, Schwellungen am Hals, die Gliedmaßen merkwürdig verdreht oder
wahlweise zerfressen. Ihre Gesichter, Arme und Beine waren mit Pusteln
übersät, dick wie Wasserläufer. Manche lagen rücklings auf der Erde mit
aufgerissenen Augen, den Mund weit geöffnet im vergeblichen Ringen nach
Luft.
Attilio knallte die Fotos unwillkürlich auf den Schreibtisch, die Bildseite
nach unten. Er schloss die Augen, als könne er so das tote Fleisch aus seinem
Geist fernhalten. Zwecklos. Auch weil er aufgeschwemmte Haut und Pusteln
dieser Art schon früher gesehen hatte. Sofort sah er ihn wieder vor sich, den
mit Wunden übersäten Leichnam, über den er bei einem Marsch gestolpert
war, als er zum Pinkeln ausgetreten war mit Nigro neben sich, der wie so oft
mitgekommen war (»Menschenskinder, Attila, ich lass dich doch nicht allein,
damit dir diese Banditen den Klöppel abschneiden!«). Vor ihren Füßen hatte
er plötzlich gelegen, neben einem Felsen, in Embryostellung wie jemand, der
sich vor einem erdrückenden Feind verteidigt. Die Leiche war mit

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