Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Vollendung die Gefahr lag, gleichgültig zu werden gegenüber dem eigenen
Sterben. Doch immerhin eine Zeit: ein kosmischer, unaufhaltsamer Marsch,
an dem alles und jeder teilnahm so wie er, mit weit geöffneten Augen auf
dem Erdboden liegend.
In Tripolis wiederum waren die Eindrücke gewohnter Natur,
abwechslungsreich und menschlich. Es gab Häuser, Geschäfte, Autos, sogar
Frauenaugen, die nicht zu Boden blickten. Und doch schien alles nur dem
einen Zweck zu dienen, nämlich seine Entschlossenheit zu brechen. Der
Junge hatte schnell begriffen, dass es schwieriger sein würde, Libyen zu
verlassen als die namenlose Oase.
Er hatte einen Schlafplatz in einem Apartment in der Peripherie gefunden.
Dort lebten fast hundert Habescha, mehr als zwölf in jedem Zimmer, mit
einem Klo am Ende des Flurs – ein unglaublicher Luxus von hier aus
betrachtet, vom großen Raum aus. Der Eigentümer wohnte mit seinen vier
Söhnen im obersten Stockwerk. Sie rauchten den ganzen Tag Haschisch,
schliefen, saßen auf dem Bürgersteig herum und sahen den Nicht-Libyern
beim Arbeiten zu. Wie alle Einwohner dieses Landes, so schien es dem
Jungen: Auf den Baustellen, in den Häusern, im öffentlichen Nahverkehr,
überall sah er nur Fremdarbeiter. Nachts tönten die vulgären Stimmen der
Frauen, die sich der Vater und seine Söhne hoch aufs Dach holten, bis hinab
in die Zimmer der Wohnung. Bei dem Klang entzündete sich dem Jungen
und den anderen Habescha ein Feuer zwischen den Beinen, und sie
phantasierten von ihren Frauen zu Hause oder von Filmdiven. In Addis
Abeba hätte er sich an der Schnelligkeit und dem Rhythmus der Muskeln
berauscht, doch hier war das zu gefährlich. Wie lange er nicht mehr gelaufen
war.
Der Junge ging so wenig wie möglich aus, nur um Essen zu besorgen und
zum Internet-Point. Das Essen kostete zum Glück nicht viel, für einen Dinar
bekam man vierzig Brote. Wann immer es ging, schaute er in seinen E-Mail-
Account. Als sie erfuhr, dass der Junge lebend in Libyen angekommen war,
dankte ayat Abeba im Namen des Herrn dem Zahntechniker aus Milwaukee,
Wisconsin.
Vor allem beobachtete der Junge das Wetter. Die Habescha in der
Wohnung warteten begierig darauf, das Meer zu überqueren, eine fieberhafte
Aufregung hielt sie im Griff, die offenbar mehr der Physis entsprang als
ihrem Willen. Auswandern ist allumfassend und zugleich sehr banal: Wenn

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