Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Kurz gesagt, Cipriani vertraute einzig und allein seinem Scharführer.
Wenn sie durch Dörfer kamen, überließ er ihm die Aufgabe, Material für
seine anthropometrischen Tabellen zu finden.
»Wie hättet Ihr sie gerne, Professore?«, fragte ihn Attilio.
Der Anthropologe vollführte mit der Hand eine kreisförmige Bewegung.
»Repräsentative Typen.«
Cipriani legte Wert darauf, es nicht zu machen wie viele seiner Kollegen,
die aus reiner Faulheit ihre anthropometrischen Studien ausschließlich an
Häftlingen und Prostituierten durchführten. Natürlich ließen sich diese
Subjekte leicht zu den Vermessungen verpflichten, doch ihrer Natur nach
stellten sie schon eine Vorauswahl aus den Niederungen dar, wenn nicht gar
außerhalb jeder Norm – als wollte man Äpfel ausschließlich anhand von
Fallobst untersuchen. Den florentinischen Anthropologen interessierten
stattdessen die Sklaven, die fast nie Amharen waren und daher interessantes
Anschauungsmaterial für andere Rassentypen boten: Shangalla, Gimirra,
Mao, Berta, Nuer. Anfangs war Attilio unsicher.
»Ich dachte, wir sollten die Sklaven befreien?«, sagte er eines Tages.
»Dafür sind wir doch auch nach Abessinien gekommen, oder? Unsere Kultur
befiehlt uns, dieser unmenschlichen Praxis ein Ende zu setzen.«
Cipriani verzog das Gesicht. »Ihr hört zu viele Lieder, Profeti. Kleines
schwarzes Gesicht, befreite Sklavinnen, völlig absurd. Wartet kurz.« Er
verschwand in seinem Zelt. Als er wieder herauskam, hielt er ein gebundenes
Buch in den Händen. Zärtlich versetzte er ihm einen leichten Klaps wie auf
die Wange eines geliebten Menschen. »Mein Meister. Von ihm habe ich alles
gelernt, was ich über das Leben und die Anthropologie weiß.«
Er begann zwischen den dünnen vergilbten Seiten zu blättern. Er musste
es auswendig kennen, hatte in wenigen Augenblicken das Gesuchte
gefunden. Mit dürrem Finger tippte er auf einen Absatz und begann zu lesen.
Seine ohnehin hohe Stimme schien nun aus der Spitze des Kopfes zu
kommen: »›Ihr Männer hoher Rasse und höchster Scheinheiligkeit. Die
christliche Verbrüderung der Rassen ist ein Traum. In Richtung beider Pole
kenne ich kein Volk, das essentiell und aus Gewohnheit grausam ist, in
Richtung der Tropen kenne ich sehr viele davon. Es nützt nichts, auf die
Sklaverei zu schimpfen und gegen den Menschenhandel zu predigen. Als
Sklave geboren gibt es nur eins, das der Neger versteht, die Sklaverei. Der
Neger kann mit einem Leben in Freiheit nichts anfangen.‹«

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