ein Wesen an einem Ort nicht mehr überleben kann, stirbt es oder geht weg.
Menschen, Thunfische, Störche, galoppierende Gnus in der Savanne.
Auswanderungswellen sind wie die Gezeiten, wie Stürme, wie die
Umlaufbahnen der Planeten, wie Geburten, sie lassen sich nicht aufhalten.
Und schon gar nicht mit Gewalt, obwohl dies eine weitverbreitete Illusion ist.
Gewalt gab es in Tripolis zuhauf. Der Junge ging nie allein zum Markt,
zu riskant für einen Habescha. Es gab Polizisten und gewalttätige Banden.
Und auch Gangs aus sieben- oder achtjährigen Kindern, die dich einkesselten
und mit Messern fuchtelnd »Awala!« schrien. Wenn man sich zu wehren
versuchte, und sei es nur durch Schubsen, konnte man von den Erwachsenen
gelyncht werden, die lachend die Szenerie beobachteten. Diese Kinder
klauten nicht aus Hunger – keinem Libyer mangelte es an Essen. Es war
reiner Zeitvertreib, ebenso unterhaltsam wie Katzen die Schwänze
anzuzünden oder Ratten mit Steinen zu erschlagen. Was ein Glück war: Denn
um sie zufriedenzustellen, musste man nur demütig den Kopf senken und
ihnen ein paar Dinar geben. Die Kinder schnappten sie sich, spuckten auf die
machtlosen schwarzen Habescha und rannten unter Triumphgeschrei davon.
Die einzige Art, auf dem Weg zum Markt nicht angegriffen zu werden, war,
sich Geleitschutz eines libyschen Freundes zu erbitten. Wenn die Kinder dich
mit einem Landsmann sahen, sagten sie nur mit wohlerzogenem Stimmchen
»Shabab!«, und die Erwachsenen ließen dich in Ruhe. An dem Tag, als die
libysche Polizei ihn schnappte, war der junge Mann ohne einen guten Libyer
unterwegs gewesen.
Es gab einen dunklen Fleck an der Mauer, in dieser Ecke des großen
Raumes. ›Mein Fleck‹, dachte der Junge. Er konnte ihn besser sehen, wenn er
mit Stehen dran war. Wie viele waren sie hier drinnen? Er wusste es nicht.
Hundert mindestens. Sicher war nur, dass sie nicht alle gleichzeitig liegen
konnten, deshalb mussten sie in Schichten schlafen. Drei Bodenfliesen, so
viel Platz stand jedem Gefangenen zu. Also musste man sich einen Kumpel
suchen, mit dem man sich abwechseln konnte, einer stand auf einer halben
Fliese, während der andere auf fünf plus ein Stückchen zu schlafen versuchte.
Seiner hieß Tesfalem, aus Eritrea. Ihre Länder hatten vor kurzem einen
jahrelangen Krieg gegeneinander beigelegt, und sie feierten den Frieden am
Horn von Afrika, indem sie ihre Leiber auf den sechs Fliesen ineinander
verschlangen, wie Zwillinge im Uterus derselben Mutter. So wurden sie
Brüder.
jeff_l
(Jeff_L)
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