Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Manchmal kamen die Wachen herein und schlugen sie, mal aus
Langeweile, mal aus Überzeugung. An guten Tagen bekamen sie ein Stück
Seife. Das Wasser reichte mehr oder weniger für ein Drittel der Leute. Am
Anfang wäre der Junge fast gestorben wegen des Modergeruchs, doch dann
starb er nicht, weil der Mensch sich an alles gewöhnt, oder an fast alles. Nach
ein paar Tagen bemerkte er ihn gar nicht mehr. Nur die seltenen Male, wenn
er auf den Hof durfte, hatte er anschließend das Gefühl, sein Kopf platze vor
Gestank. ›Ich halte das nicht aus‹, dachte er jedes Mal, ›ich sterbe.‹ Doch er
lebte weiter. Er lernte die Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie
seine Füße über die nackte Erde liefen, seine Beine zwei Kolben, die
Ellbogen verjagen die Straße. So vergaß er seinen erniedrigten Körper und
schwelgte stundenlang in dem Glück, mit einem imaginären Körper zu
laufen.
Diese stinkenden Mauern befinden sich wenige Kilometer von Tripolis’
Zentrum entfernt, doch selbst die namenlose Oase war näher an der übrigen
Welt als der große Raum. Im Vergleich war die Wüste mit ihren GPS und
Jeeps der Schlepper ein stark frequentierter Knotenpunkt im internationalen
Verkehrsnetz. Dieses Gefängnis war eine Dunkelheit, aus der nicht das
geringste Signal kam, ein für kein Fernrohr sichtbares schwarzes Loch. Für
das, was hier geschah, hatte selbst Gott keine Worte.
Der Junge wusste nicht mehr, wie viele Monate er schon hier war. Seine
Familie hatte keine Nachricht von ihm seit seiner Festnahme. Wo ist er? Wie
geht es ihm? Als die Mutter zur libyschen Botschaft in Addis Abeba ging, um
nach ihm zu fragen, hatte ein Angestellter mit schweren Augenlidern ihr
mitgeteilt, dass der Name ihres Sohnes nicht in den Akten auftauchte. In
Wirklichkeit hatte er gar nicht nachgeschaut.
Keiner der Gefangenen wusste, warum er hier war. Keiner wusste, wie
lange er bleiben würde. Es gab Kranke, die jammerten. Andere flüchteten
sich in unerreichbare private Traumbilder, und der Junge bezweifelte, dass sie
in Freiheit überleben würden. Ein paar Privilegierte arbeiteten unbezahlt
einige Stunden am Tag in den Häusern der Aufseher. Andere verbrachten
ihre Zeit damit, sich die Muster ihrer Fingerkuppen mit der Säure aus ihren
Handyakkus wegzuätzen.
»Dublin, das Abkommen«, hatte ihm Tesfalem erklärt, sein
Fliesenbruder: In dem europäischen Land, wo man erstmals registriert wird,
muss man bleiben. Alle wollten sie über das Meer und in Italien an Land

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