gehen, aber fast keiner wollte dort bleiben. Die meisten wollten weiter nach
Deutschland, England, vor allem nach Skandinavien. Und wem würde es
gelingen nachzuweisen, dass sie als erstes Festland Italien betreten hatten,
wenn man bei ihnen nach der Landung keine Fingerabdrücke nehmen
konnte? Der Junge gehörte zu den wenigen, die sich nicht stundenlang die
Fingerspitzen verstümmelten. Sollten sie doch in Italien seine Abdrücke
nehmen, seine Reise sollte ohnehin dort enden.
Tesfalem war wie alle Eritreer in dem großen Raum
Kriegsdienstverweigerer. Er war vor einem zeitlich unbegrenzten
Militärdienst geflohen, der auch zwanzig Jahre dauern konnte. Dies war sein
zweiter Fluchtversuch. Beim ersten Mal hatten sie ihn geschnappt und in ein
Gefängnis für Deserteure auf die Insel Nokra gebracht, auf dem Dahlak-
Archipel. In dem Innenraum eines Lieferwagens hatten sie über hundert von
ihnen wirklich übereinandergestapelt, um dann im Hafen von Massaua auf
einer Fähre einzuschiffen. Ein halbes Dutzend Gefangene war während der
Überfahrt totgequetscht worden. Die Insel war hell, vom Wind durchweht,
das Meer hatte dieselbe Farbe wie die Ohrringe der Frauen, die zu Hause um
ihre Männer weinten. Das einzige Gebäude war ein Steinhaus, hundert Jahre
älter als die talian. Tesfalem verbrachte dort knapp ein Jahr, in die
unterirdischen Verliese gesperrt mit fast tausend anderen Männern. Auf der
kurzen Fahrt von der Mole dorthin hatte er auf dem Meer ein Boot liegen
sehen. Es sah aus wie das eines Filmstars, weiß und groß wie ein herrlicher
Vogel. Europäische Frauen in Bikinis hatten langsam auf dem Vorschiff
getanzt. Das war das Letzte, was er sah, bevor er im Untergrund verschwand.
Tesfalem erzählte dem Jungen, dass sie ihm einmal bäuchlings Hände
und Füße auf den Rücken gefesselt hatten. So musste er fast zwei Wochen
liegen bleiben, nur einmal am Tag durfte er aufstehen, um zu essen und die
Latrine aufzusuchen. Hubschrauber hieß die Position, elicotero. Dann gab es
noch Jesus Christus, die Acht, das Hufeisen, den Reifen (Gesucristo, l’otto, il
ferro und la gomma), alles verlässliche Foltermethoden aus dem Erbe der
italienischen Kolonialzeit. So hatte Tesfalem neue italienische Wörter
gelernt.
Es waren nicht seine ersten. In Eritrea, erzählte er, fühlte man sich den
alten Kolonisten irgendwie verbunden, was nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
Der Junge berichtete seinerseits, wie Suor Giovanna ihm ihr reiches Land
hinter diesen schmutzigen Mauern jenseits des Meeres geschildert hatte.
jeff_l
(Jeff_L)
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