Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Verschiedene Zeugen hatten darüber hinaus bestätigt, dass die
Mitbewohnerin Geschenke erhalten hatte: einen Schal der Eingeborenen aus
Baumwollgarn, einen Silberspiegel – alles Beweise für eine Liebesbeziehung.
Der Verteidiger aber hatte diese Lesart in seinem Plädoyer zurückgewiesen.


Erwähnte kleine Geschenke waren Profetis Art, die Ezezew zu
belohnen, weil sie die häuslichen Aufgaben, für die sie angestellt
worden war, mit Sorgfalt und Präzision erledigte. Wie man auch
Arbeitstiere durch Streicheln oder kleine Leckereien belohnt, wenn
sie gehorsam sind.

Dem Richter schwoll die Stirnader, ein bitterer Geschmack stieg in ihm auf,
den er nicht hinunterschlucken konnte. Früher oder später würde er krank
darüber werden, das wusste er, diese Gesetze mit seinen Urteilen bestätigen
zu müssen. Vor allem weil er, wenn er die Augen schloss, immer wieder ihr
Gesicht vor sich sah. In dem kein Ausdruck von Vorwurf, von Schmerz oder
Enttäuschung lag, sondern im Gegenteil – und ein schwarzes Gewicht senkte
sich schwer auf die Brust des Richters, so dass er kaum noch Luft bekam –
ein Lächeln für ihn.
Und wie immer, wenn er an sie dachte, verwandelte sich seine Empörung
in Schuldgefühle. Warum nur hatte er sie nicht geheiratet, als es noch erlaubt
war? Warum hatte er sie nicht vor dem Gesetz geschützt, sie und ihre Liebe?
Jetzt war es zu spät. Der junge Jurist voller Ideale war zum Opportunisten
geworden, zu einem Feigling, der ohne große Skrupel diejenige verriet, die er
liebte. Denn so lautete die Wahrheit: Er war nicht besser als dieser Profeti mit
seinen schamlosen Lügen. Dies war das langfristige Ergebnis solch perverser
Gesetze – nicht nur wurden die Unterlegenen gedemütigt, nein, auch die
Menschlichkeit derer, die man überlegen nannte, war degradiert.
Der Richter spürte eine vage Erleichterung. Aber ja, dies war das geistige
Klima der Epoche, die ethische Unterdrückung durch schlechte Gesetze, der
Machtmissbrauch, der die Bürger – ihn, Profeti, alle Kolonisten, die in der
Heuchelei des Madamatos lebten – dazu zwang, gegen die eigenen
moralischen Prinzipien zu handeln. Einen kurzen Moment lang sah der
Richter die Möglichkeit der Absolution. Einige gesegnete Atemzüge lang
konnte er unbelastet Luft in seinen Brustkorb saugen. Die Scham nahm ab.

Free download pdf