Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

19


2010


»Einer dieser Vierzigjährigen, die aussehen wie die traurigen Onkel ihrer
Altersgenossen.« Das denkt Ilaria unwillkürlich beim Anblick von
Piergiorgio Valente, dem Anwalt für Einwanderungsrecht: das Hemd spannt
über seinem Bauch, ein paar graue Haarbüschel umringen den weitgehend
kahlen Schädel, der Ehering drückt den Finger, auf den er ihn
fünfundzwanzig Kilo zuvor gesteckt hat. Auf dem Schreibtisch eine leere
Mars-Verpackung.
Valente ist müde. Sehr müde. Er betrachtet den Mann und die Frau, die
ihm gegenübersitzen, und die Erschöpfung sackt tief hinab bis in seine
geschwollenen Füße.
Er hat es satt, die im CIE Gefangenen – Pardon, Festgehaltenen –, also
Menschen, die nur eine Vorstellung bekommen möchten, was sie erwartet,
davon zu überzeugen, sich den Eisendraht ziehen zu lassen, mit dem sie sich
den Mund verschlossen haben. Oder der moldawischen Prostituierten, die
ihre Sklavenhalter angezeigt hat, zu sagen, dass die Italienische Republik ihr
zwar aufrichtig dankbar ist für ihren unschätzbaren Beitrag im Kampf gegen
den Menschenhandel, aber ihren Mut nicht belohnen wird, weder durch eine
Auszeichnung für Zivilcourage noch mit der Staatsangehörigkeit und nicht
einmal mit der vagen Hoffnung auf eine Aufenthaltsgenehmigung, denn
Gesetz ist Gesetz, und sie ist nun mal illegal nach Italien gekommen
(Übersetzung: halb ohnmächtig im Laderaum eines Lkw, aufgerissen von der
Einführung in dieses Gewerbe, der ihre Aufseher sie tagelang unterzogen
haben, um die Psyche in dem Körper zu brechen, den sie verkaufen wollen).
Er hat die schikanösen Anordnungen mancher Bürgermeister satt (was
macht es schon, wenn sich ein armer Kerl auf einer Parkbank ausruht?). Und
supersatt hat er die Fragen der Journalisten, wenn er juristisch dagegen
vorgeht: »Bekämpfen Sie den Rassismus?«
Ach, dieser Begriff, der sich für alles nutzen lässt. Früher hat auch er mal
an einen Sinn dahinter geglaubt. Mit zwanzig war er bei der ersten großen

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