Alle ausser mir

Ilaria blickt sich irritiert um. Die Wände müssten mal wieder gestrichen
werden, der Metallstuhl ist unbequem, auf dem Tisch türmen sich die
Aktenordner zu schiefen Stapeln, als habe das Computerzeitalter diese
Kanzlei noch nicht erreicht. An der Tür hängt ein Plakat aus falschem
Pergamentpapier mit wild geschwungener Schrift: »Die Gesetze, die doch
Verträge zwischen freien Männern sind oder sein sollen, sind in den meisten
Fällen nur die Werkzeuge für die Leidenschaften weniger. Cesare Beccaria«.
»Weil sie Afrikanerin war«, beantwortet der Anwalt seine Frage selbst.
»Bei argentinischstämmigen Personen mit weißer Hautfarbe gibt es nie
solche Probleme.«
»Absurd!«, stößt Attilio hervor. »Wir in Italien leiden unter einer extrem
langsamen Bürokratie und Schlamperei, aber das doch nicht. Wir sind doch
keine Nazis.«
Der Anwalt blickt Attilio mitleidig an. »Nazis ...« Er lässt das Wort von
einem Mundwinkel in den anderen wandern, wie einen Zahnstocher. »Aber
nein, natürlich nicht. Die Nazis haben den Krieg verloren. Wir sind doch
nicht wie die.«
Der Sarkasmus, mit dem er diesen Satz unterlegt, weckt in Ilaria das
unbestimmte Gefühl, beleidigt zu werden. Aber Valente fährt schon fort.
»Wir sind doch keine Rassisten, wir sind doch so inklusiv! Wir haben die
Europäische Union geschaffen, wir haben einheitliche Reisepässe, mit
Schengen haben wir sogar die Grenzen abgeschafft. Aber ...«
Er hält inne und blickt sie an. Ilaria nervt diese Art, die Sätze in der Luft
zu halten wie Leckerli, als wäre er ein Hundeabrichter. Außerdem erinnert sie
sich noch gut an ihre erste Reise mit dem neuen Reisepass, als sie mit Lavinia
am Check-in in Bangkok zwischen Spaniern, Franzosen und Deutschen
stand, die sich gegenseitig ihre gleichen, weinroten Ausweise zeigten, stolz
darauf, zu einem Kontinent zu gehören, der gerade seine Mauer eingerissen
hatte und sich als die Avantgarde der neuen Menschheit ohne Unterschiede
sah. Eben: inklusiv. Und sie wüsste nicht, was an diesem Ansinnen falsch
sein soll.
»Wissen Sie überhaupt, was diese CIE sind, wo Ihr Verwandter gelandet
ist?«
»Vielleicht Verwandter«, präzisiert Attilio erneut.
»Zentren für Identifizierung und Abschiebung«, erwidert Ilaria und ärgert
sich im nächsten Moment, bei Valentes blödem Ratespiel mitzumachen. Vor