Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

sind nicht länger der rechte Abgeordnete und die progressive Nervensäge,
Abkömmling von Päpsten und Enkelin eines Bahnhofsvorstehers. Sie haben
keine Namen mehr, nichts ist unwichtiger als ihr Geburtsort, und auch das
Einkommen, der große Spalter, kann ihre Verschmelzung nicht mehr
verhindern. Sie sind nicht einmal mehr Mann und Frau, nur zwei Körper, die
so kompatibel sind, dass sie in der Begegnung eins werden. Es ist nicht
wichtig, wer aufgrund welcher Reibung was genießt. Ilaria empfindet Pieros
feste Schamhaare als Teil von sich wie ihre eigenen, rasierten. Sein starker
Rücken, in den sie ihre Fingernägel vergräbt, und die eigenen Brüste – als
»rund« kategorisiert, was jetzt aber auch nicht mehr zählt –, die unter ihr
tanzen, wenn sie auf allen vieren kniet. Sie kommen nicht immer zusammen,
manchmal schon, niemand zählt mit.
Piero ist eingeschlafen. Ilaria ist ins Bad gegangen und atmet den
durchdringenden Kaffeeduft ein, der durch das Hoffenster hereinströmt. Sie
blickt aufs Handy: genau halb drei. Um diese Uhrzeit stehen die
Bangladescher immer auf! Sie müssen in einem anderen Apartment einen
neuen Schlafsaal eingerichtet haben – in Rom zerstreut sich die
Gesetzlichkeit schneller als eine Wolke am Himmel. Sie streckt sich neben
Piero aus, der sie mit einem Grunzen an sich heranzieht.
In Ilarias Körper klingt noch die Freude nach, wie in einer Echohöhle. Ihr
fallen Ciprianis wahnwitzige Körpervermessungen ein. Die perverse
Taxonomie seiner Menschenlisten. Was ist das Gegenteil dieses Zwangs des
Katalogisierens? Ganz einfach: Sex mit Piero. Die Verehrung der reinen und
getrennten Wesensarten findet im Eros ihren Gegenspieler.
Ilarias Zärtlichkeit für den Mann, der eben noch in ihr war und nun seinen
Arm um sie gelegt hat, erblüht wie eine nächtliche Blume. Über den Dächern
ist ein dünner Mondstrich aufgegangen, in dem matten Licht betrachtet sie
ihn von der Seite.
›Wer ist Piero wirklich?‹, fragt sie sich.
›Ich habe keine Ahnung‹, denkt sie.
Und das macht sie glücklich. Das muss sie sein, die Liebe.
berli17

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