Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

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Beim ersten Menschheitsversuch der Selbstvernichtung im zwanzigsten
Jahrhundert wurde Ernani nicht eingezogen. Nicht weil er Frau und Kinder
hatte – viele Familienväter mussten an die Front –, sondern weil das
Vaterland entschieden hatte, dass er den Kampfhandlungen am Bahnhof von
Lugo in Romagna dienlicher wäre. Mehr noch als in Friedenszeiten mussten
die Züge rollen.
Es war der Eisenbahner Profeti Ernani, der die Lippen von Verlobten und
Soldaten an den Zugfenstern voneinander löste, indem er am Ende des
Bahnsteigs die grüne Fahne schwenkte und damit das Signal für die
Truppentransporte in Richtung Nordosten gab. Bei der Rückkehr derselben
Konvois wurde er von einem infernalischen Gestank erfasst, junges Fleisch
auf Fronturlaub, Massen von Soldaten, die sich auf den Bänken und in den
Gängen drängten, die Körper in schlammverkrusteten Uniformen, die seit
Monaten weder Wasser noch Seife gesehen hatten. Sie dämmerten alle ohne
Ausnahme, in einem Halbschlaf, dicht und umfassend, weit weg, als kämen
sie nicht aus dem Krieg, sondern aus der Vorhölle einer Hexe, die sich eine
Freude daraus machte, die kraftvollsten jungen Männer in schmutzige Tiere
zu verwandeln und dann einzuschläfern. Oft musste Ernani selbst in den
Waggon klettern und diejenigen wachrütteln, die an der richtigen Station
aussteigen sollten, um möglichst keine einzige der kostbaren Stunden ihres
Fronturlaubs zu verpassen. Doch das war nichts im Vergleich zu den
Krankentransporten. Einmal beging der junge Eisenbahner den Fehler, in
einen Waggon mit Verwundeten zu steigen, um mit einem Reserveoffizier
eine Umleitung zu klären. Eitrige Verbände, schlecht amputierte Gliedmaßen,
deformierte Köpfe unter Verbandszeug, vor allem aber der Geruch nach Tod
und Wundbrand. Als Ernani wieder auf dem Bahnsteig stand, übergab er
sich. Doch ein Eisenbahner bleibt ein Eisenbahner, deshalb fragte er sich in
den Brechpausen, wie das Zugpersonal es schaffte, all die vielen Waggons zu
desinfizieren.
Erst fünf Jahre war es her, dass Gea della Garisenda, nur in das Banner
Savoyens gewandet, die Eroberung Libyens besungen hatte: Tripolis, du

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